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„Wir wollen Vielfalt“

Grünen-Chefin Renate Künast gegen Diskurstabus und für multikulturelle Demokratie

Interview BETTINA GAUS und LUKAS WALLRAFF

taz: Sie haben mit Ihrer Einschätzung für Aufsehen gesorgt, dass der Begriff Multikulti ebenso unscharf sei wie der Begriff der Leitkultur. Meinen Sie, dass der Zeitpunkt für diese Äußerung glücklich gewählt war?

Künast: Ich halte die Darstellung in der taz für verkürzt. Ich habe gesagt, dass der Begriff Multikulti zu kurz greift. Er beschreibt nur einen Teil des Problems. Wenn die Linke Einwanderungspolitik gestalten will, dann muss sie sich genau Gedanken darüber machen, wie sie die Republik insgesamt mitnehmen kann. Deshalb kann das Wort nicht die alleinige Antwort auf die Frage sein, wie wir Einwanderungspolitik und Zusammenleben gestalten wollen. Beim kulturellen Aspekt geht es um Sitten, Religion, Weltanschauung. Wir wollen eine Vielfalt der kulturellen Ausprägung. Aber mit dem Begriff Multikulti lässt sich die Frage nicht beantworten, nach welchen Kriterien wir inhaltlich Einwanderungspolitik gestalten. Davor darf sich die Linke nicht drücken.

Wer hat denn behauptet, dass Zuwanderung sich alleine mit Hilfe des Begriffs Multikulti regeln lasse?

Die Diskussion innerhalb der Linken hat sich jahrelang mit diesem Begriff beschäftigt und sich dabei nicht darum bemüht, auf die Ängste und Sorgen in der Bevölkerung einzugehen. Inzwischen haben wir Grüne allerdings längst darüber diskutiert, wie ein solches Einwanderungskonzept gesetzlich aussehen kann. Das Ergebnis wird auch bald vorgestellt werden. Wir müssen uns mit dem konkreten Bedarf auseinander setzen, mit dem demografischen Wandel, und wir müssen Konzepte für die Kriterien der Einwanderung und für die Regeln des Zusammenlebens entwickeln. Der Begriff des Verfassungspatriotismus wird ja in diesem Zusammenhang seit Habermas hochgehalten, weil er einfach zeigt, dass es jenseits aller kulturellen Unterschiede einen demokratischen Konsens des Alltags gibt.

Nichts gegen Verfassungspatriotismus. Aber Sie haben den Begriff Multikulti zu einer Zeit problematisiert, in der die Diskussion über Einwanderungspolitik von Teilen der Union stark emotionalisiert worden ist. Halten Sie Ihre Äußerungen vor diesem Hintergrund für klug?

Ich glaube, es wäre ein Fehler, jetzt in die alten Grabenkämpfe der 70er- und 80er-Jahre zurückzugehen. So wird man das Problem nicht lösen können. Ich sage noch einmal: Die kulturelle Vielfalt ist etwas Gewolltes, und wir stehen dazu. Ich halte aber nichts davon, sich jetzt nur mit Friedrich Merz über die Vorstellung einer deutschen Leitkultur auseinander zu setzen, die wir aus vielerlei Gründen ablehnen. Wir brauchen die gesellschaftliche Akzeptanz für unsere Vorstellungen, wie Einwanderung zu regeln ist. Ich kann nur davor warnen, über bestimmte Dinge nicht diskutieren zu wollen. Wir haben nicht viel Zeit, um unsere Position klarzustellen.

Wer setzt Sie denn unter Druck?

Deutschland braucht Einwanderung, und wir sind die Partei, die das seit Jahren sagt.

Die Regierung will ein Einwanderungsgesetz aber erst verabschieden, seit die Union bei dieser Diskussion den Ton angibt.

Widerspruch! Die Grünen wollten das, lange bevor die Union „Kinder statt Inder“- oder „Deutsche Leitkultur“-Debatten losgetreten hat, um im Kampf um die Stammtischhoheit Punkte zu sammeln. Deshalb müssen wir über alle anstehenden Fragen offen diskutieren. Wir müssen uns mit den Sorgen der Menschen auseinander setzen, auf sie zugehen. Über Einwanderung zu reden heißt: über die Zukunft Deutschlands und Europas zu reden. Da ist viel zu besprechen: Gibt es Quoten? Gibt es Kriterienkataloge? Wie viele sollen kommen? Wer entscheidet das? Setzt sich die deutsche Wirtschaft alleine durch? Auch taz-Leser und -Redakteure haben bestimmte Stadtbezirke verlassen und gesagt: Ich will nicht, dass mein Kind eine Schulklasse besucht, wo 80 Prozent der Kinder kein Deutsch sprechen. Deshalb sage ich: Der Begriff Multikulti ist nur die halbe Antwort, die Frage ist aber breiter. Das sperrige Wort Verfassungspatriotismus soll die demokratischen Regeln und die Gleichheit der Menschen und Geschlechter betonen. Es ist die Antwort auf den anderen Teil dessen, was die Menschen bewegt. Multikulti und Demokratie müssen zusammenkommen – also multikulturelle Demokratie.

Sie betonen immer wieder, man dürfe die Diskussion nicht tabuisieren. Friedrich Merz war bisher fast der Einzige, der behauptet, das sei geschehen. Bitte, sagen Sie uns: Wer wollte denn abtauchen und nicht über die Regeln des Zusammenlebens sprechen?

Die Diskussion innerhalb der Gesellschaft über den ganzen Bereich der Einwanderungspolitik hat sich in den letzten Monaten ja gerade erst wieder entwickelt. Vor wenigen Jahren waren die Grünen noch in einer absolut randständigen Position, als es um die Frage der Einwanderungspolitik ging. Inzwischen muss auch die CDU zugeben, dass wir Einwanderung brauchen.

Wer taucht denn nun ab?

Ich mache niemandem den Vorwurf abzutauchen. Aber es geht darum, ob man bestimmte Fragen jetzt stellen darf. Ich sage: Ja, weil wir nur so weiterkommen. Wir haben im Augenblick eine Situation, in der wir die Regelung von Zusammenleben mit bestimmen können und dafür Sorge tragen können, dass sie nicht alleine den Vorstellungen der CDU oder den kurzfristigen Profitinteressen der Wirtschaft folgt. Wir haben jetzt eine Gestaltungschance, und wir sollten sie nutzen, damit sich nicht andere durchsetzen.

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