Yvonnes Einsicht

Die Untersuchung oder Der Untergang des Hauses Kohl, Teil sieben

von RALF BÖNT

„Wo denn noch?“ schoss es Hartmut Gossel wie automatisch heraus, so dass er – innerlich – unter seiner eigenen Stimme zusammenzuckte.

Aber Güldemeister hatte nichts gemerkt. „In Luxemburg“, sagte er mit plötzlich ebenfalls geduckter Tonlage wie ein Schuljunge, den man beim Rauchen erwischt hat, „und Sie werden es nicht glauben, aber im Saarland lagern noch Unsummen. Niemand weiß im Moment, wie das technisch überhaupt gemacht wurde.“

„Hm“, sagte Gossel, „das müssen wir aber unbedingt herauskriegen. Lückenlos“, er hüstelte, „wenn ich das so sagen darf.“ Der Adrenalinschub hatte ihn sekundenbruchteileschnell in höchste Konzentration versetzt.

„Das heißt, Sie nehmen an?“

Gossel ignorierte sein Gegenüber für ein paar Sekunden. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Mit einiger Gelassenheit zog er sein verchromtes Tablettendöschen aus der Innentasche seines Jacketts. Er öffnete es und drückte mit der linken Hand eine Billigaspirin durch die Silberfolie. Gleichzeitig hatte er nach Yvonne geklingelt. Er würde sie bald einmal wieder ausführen müssen, denn kreative Berufe benötigen Intimität, aber jetzt konnte er nicht darüber nachdenken. Schon erschien sie mit den Beinen irgendwie voran in der Tür. Wie sie das bloß immer machte.

„Ein Glas Wasser bitte, Yvonne“, sagte Gossel extrem freundlich, „und für unseren Gast, Herrn ... “

„Güldemeister“, vervollständigte Güldemeister extrem freundlich.

„ ... auch etwas zu trinken? Cognac?“

„Gern.“

Yvonne verschwand.

„Sehen sie“, setzte Gossel an, „ich glaube, Sie haben sich an den Richtigen gewandt, und das zeichnet Sie schon aus. Sie wissen was Sie wollen. Bei uns ist gute Unterhaltung zu Hause.“

Güldemeister nickte.

„Gute Unterhaltung ist das, was die Leute haben wollen. Und die Leute haben ein Recht darauf, nicht wahr? Warum sollen sie nach der anstrengenden Arbeit im Supermarkt oder in der Kanzlei ein schwieriges Buch, sagen wir von Max Frisch lesen? Das kann niemand verlangen, nach solch einer menschenverachtenden Arbeit. Wir haben ein Jahrzehnt Erfahrung damit, den Leuten genau das zu geben, was sie am Abend haben möchten, und das gilt selbst dann, wenn sie noch gar nicht genau wissen, was sie haben wollen. Sogar das nehmen wir ihnen noch ab, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Güldemeister wusste. Er nickte.

„Ein Jahrzehnt ist dabei genau die richtige Zeit“, fuhr Gossel fort, „wenn Sie zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre dabei sind, lernen Sie nicht mehr. Dann müssen Jüngere ran. Wenn Sie erst zwei Jahre dabei sind, haben Sie noch nichts kapiert. Wir sind jetzt genau an der Stelle, wo wir praktisch alles machen können. Dabei ist der Schlüssel folgender: Es muss immer um Realita gehen. Die Leute wollen unterhalten werden mit den Dingen, die sie unmittelbar angehen.“

„Klar“, sagte Güldemeister fest, weil er nicht wusste, worauf dieser Vortrag hinauslief, und Belehrungen nicht gewohnt war.

„Und unsere Ziele bringen wir natürlich auch ein. Die hohe Kunst ist es, unter der Hand ein kluges Spiel mit den Leuten zu spielen.“

Güldemeister nickte wieder.

„Das können Sie mit einem Witzblock aber nicht erreichen. Da muss mehr her. Eine Serie. Eine Dokumentation. Etwas total Reelles, nicht? Aufruhr und Leidenschaft! Aber so aufbereitet, dass es Frau Dingenskirchen aus der schattigen Nebenstraße oder den krankhaften Grünwähler auch erreicht, nicht?“

„Genau“, pflichtete Güldemeister bei.

„Sonst schalten die um!“

Yvonne hatte hinter der Tür auf den richtigen Moment gewartet und kam jetzt mit dem Wasser und zwei Cognacgläsern herein. Sie machte eine Geste zu Gossel, der nicht verstand und sie fragend ansah. Yvonne formte das Wort „Flasche“ mit dem Mund, Güldemeister konnte es nicht sehen, und Gossel räusperte sich, holte dann aber umstandslos die Flasche aus dem Schreibtisch. Yvonne goss ein.

„Aber so, wie Sie das wollen“, sagte Gossel, indem er sich zurücklehnte, „werden wir das nicht machen können.“

„Wieso?“, entfuhr es dem anderen jetzt unvermittelt. Damit hatte Güldemeister nicht gerechnet, und es stand eins zu null für Lores Stecher.

„Wir geben keine Drehbücher raus, die in unserem Haus entstanden sind.“

„Und das heißt?“

„Entweder wir machen die gesamte Produktion, oder Sie müssen sich einen Schlechteren suchen.“

„Gut. Reden wir über Geld“, wollte Güldemeister zur Sache kommen, zur einzigen, von der er etwas verstand.

„Nein“, sagte Gossel, er hatte jetzt schon auf ganzer Länge, Breite, Höhe und Tiefe gewonnen, „so schnell scheißen die Spatzen nicht, oder wie man so sagt, da muss man erst mal einen Schlachtplan machen. Sie hören von uns zu gegebener Zeit. Wo kann ich Sie erreichen?“

„In Baden-Baden“, Güldemeister zückte seine Karte und Gossel hob sein Glas zu ihm hin, nachdem er die Aspirin mit etwas Wasser hinuntergespült hatte.

„Auf eine gute PR“, sagte Güldemeister.

„Auf eine gute PR“, sagte Gossel.

Als Güldemeister weg war, setzte er sich auf die Couch, Yvonne brachte noch ein Glas und zog die Schuhe aus. Sie setzte sich neben ihn, zog die Beine an ihren Körper heran und sagte nichts. Gossel hatte logisch jetzt Rückenwind. Er fühlte sich groß, handlungsfähig. Das Problem, dachte er, diese Deppen, das Problem sind nicht die Frauenrollen. Niemand aus dieser Gruft lernt noch irgendetwas hinzu. Das Problem sind natürlich die Männerrollen. Und vor allem bei Kohl. Dass sich einer wie er so gehen lässt! Vor der Weltöffentlichkeit jede Kontrolle sausen lässt, erst körperlich und dann mental, dass der auf jeden Ruf scheißt wie der Köter auf den Marktplatz! Den Feministinnen müsste das eigentlich gefallen, so ein Kerl wie Kohl, dem jeder Stolz und Anstand vollkommen gleichgültig ist! Man kann den ja überhaupt nicht plausibel machen.

Yvonne setzte sich neu zurecht und sagte: „Wenn der redet, sitzt er im Knast.“

„Wer?“ fragte Gossel genervt.

Ralf Bönt fand Helmut Kohl früher öd. In seinem letzten Roman „Gold“, dessen Dramatisierung und Inszenierung gerade vom Berliner Ensemble vorbereitet wird, hat die Macht immer einen Nachfolger.