: Eine Versöhnung mit dem Mauerstreifen
Wo einst Erich Honecker die Sprengung der Versöhnungskirche anordnete, läuten morgen zum Jahrestag der Maueröffnung wieder Kirchenglocken
von PHILIPP GESSLER
Einmal hat auch Erich Honecker die Mauer abreißen helfen. Im Nationalen Verteidigungsrat gab der Staats- und Parteichef der DDR im Punkt 7 des „Maßnahmenplans zur Sauberhaltung der Staatsgrenze der DDR“ den Befehl zu einer Sprengung: Am 22. und 28. Januar 1985 wurde die evangelische Versöhnungskirche auf dem Todesstreifen der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin dem Erdboden gleichgemacht. Es war eine pyrotechnische Meisterleistung, denn der Kirchtum des neogotischen Backsteinbaus mit vier Meter dicken Grundmauern durfte nur nach Osten fallen, keinesfalls auf West-Berliner Gebiet. Das klappte zwar wie geplant – nur dass der Turm dabei die Vormauer des Eisernen Vorhangs einriss.
Morgen wird die Leere, die Honeckers Sprengkunst hinterließ, wieder gefüllt: Wo bis vor 15 Jahren die Versöhnungskirche stand, wird morgen die „Kapelle der Versöhnung“ eingeweiht: am 9. November, dem Tag, an dem 1989 die Mauer fiel.
Es ist ein Tag voller Symbolik, und das passt gut zu dieser Kapelle und seinem Vorläuferbau. Denn wie kaum ein anderes Gebäude in der Hauptstadt wies das Gotteshaus in seiner Geschichte über sich hinaus, war es immer Zeichen und Symbol im politischen Spiel. Das fing schon bei der Einweihung der Versöhnungskirche am 28. August 1894 im Wedding an, als der Arbeiterbezirk schier aus den Nähten zu platzen schien. Eigens kam Kaiserin Auguste Victoria herbei, um den Eröffnungsgottesdienst beizuwohnen – ein politischer Akt, den sie durch eine symbolische Geste noch betonte: Die Kaisergattin schenkte der Kirche eine Altarbibel und schrieb darin einen Spruch aus dem 2. Brief des Paulus an die Korinther (5,19): „Ja, Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt; er rechnet ihnen ihre Fehltritte nicht mehr an und hat unter uns das Wort der Versöhnung gestiftet.“ Das politische Zeichen war klar: Die Staatsmacht, die die Arbeiterschaft durch das Sozialistengesetz bis 1890 politisch mundtot machen wollte, deutete eine Bitte um Vergebung an. Ein Bibelspruch als Versuch einer Versöhnung im Klassenkampf.
In den Jahrzehnten danach war die Versöhnungskirche der Gottesraum einer ganz normalen Berliner Gemeinde – bis 1945: Durch die Aufteilung der früheren Reichshauptstadt in vier Sektoren lag die Versöhnungskirche wie die ganze Bernauer Straße an dieser Ecke plötzlich genau an der Grenzlinie zwischen Ost und West. Die Häuser auf der (süd-) östlichen Seite der Bernauer Straße gehörten zur Sowjetischen Besatzungszone, die Häuser gegenüber zum Westen.
Und das bedeutete ganz konkret: Wer in den östlichen Häuser wohnte, betrat zwangsläufig, sobald er aus der Tür auf das Trottoir trat, West-Berliner Gebiet. Bis zum 13. August 1961 galt diese Absurdität auch für die Versöhnungskirche, in der immer noch Gottesdienste stattfanden: Sobald Gläubige aus dem Westen das Kirchenschiff betraten, waren sie im Osten und trafen dort Gemeindemitglieder aus dem Ost-Bezirk Mitte. Nach dem Schlusssegen kehrten sie in den Westen zurück.
Dann der Mauerbau: Volksarmisten standen im Hausflur der Häuser an der östlichen Seite der Bernauer Straße. Zuerst wurde Stacheldraht gespannt, dann die Türen zum Westen zugemauert – die Leute konnten nicht mehr aus ihren Häusern. Stattdessen wurden in den Hinterhäusern Löcher in die Stützwände gerissen, damit die Bewohner überhaupt noch in ihre Wohnungen konnten. Die Bilder von Menschen, die sich aus den Fenstern in den Westen retten wollten, wurden zum Symbol der Teilung.
Die Versöhungskirche, deren letzte Kriegsschäden gerade erst beseitigt worden waren, lag nun mitten auf dem Todesstreifen, direkt vor der Mauer. Nur Sondereinheiten der Grenztruppen schauten bis 1985 noch gelegentlich nach dem Rechten – irgendwann in diesen Jahrzehnten zerstörten sie mit Bajonetten die Abendmahlszene unter dem Altarkreuz. Nur die Figur des Judas blieb unversehrt.
Die Versöhnungskirche warden DDR-Oberen stets ein Dorn im Auge – wegen ihrer Lage und ihres Namens, der sie zu einer Mahnung gegen die deutsche Teilung machte. Deshalb der Befehl Honeckers zum Plattmachen des Gotteshauses. Die Sprengung wurde im Osten geheim gehalten, der Westen erfuhr erst 24 Stunden vor der mächtigen Explosion davon. Auf dem Balkon der westlichen Rest-Gemeinde der Versöhnungskirche sammelten sich Fotografen, CNN sendete live. Die Bilder des einstürzenden Kirchturms gingen um die Welt, Bundeskanzler Helmut Kohl erwähnte den barbarischen Akt in seiner Rede zur Lage der Nation.
Als vier Jahre später die Mauer fiel, sah der Vereinigungsvertrag eine Rückgabe der Grundstücke im Mauerstreifen vor, wenn sie früher kultisch genutzt wurden und auch in Zukunft diese Bestimmung haben sollten. 1995 erhielt die Gemeinde das Grundstück zurück, und die Christen entschlossen sich zur Errichtung eines neuen Sakralbaus. Die Architekten schlugen einen Bau in Stahl, Beton und Glas vor. Diese Idee verwarf man – nicht an diesem Ort. Stattdessen entschloss sich die Gemeinde, eine Kapelle in einer seit 150 Jahren nicht mehr in dieser Größe genutzten Bauweise zu realisieren: ein Gotteshaus aus Stampflehm, umgeben von einer schützenden Stabwerk-Außenhaut aus Holz.
Der eiförmige Altarraum, in der ein Sichtfenster im Boden einen Blick in die Kellerreste der Versöhnungskirche samt Mauerresten freigibt, hat einen Durchmesser von zwischen 10 und 14 Metern und ist 7 Meter hoch. Für die 60 Zentimeter dicken Wände mussten 390 Tonnen Lehm gestampft werden.
Um eine für die Statik gleich bleibende Konsistenz sicherzustellen, wurde der Lehm in einem Mal gemischt – nach Untersuchungen der Technischen Uni, denn ob dieser Bau überhaupt zu bewerkstelligen sei, war unklar. Als Zuschlagstoff beigemischt wurden auch zermahlene Backsteine der Versöhnungskirche.
Das Stampfen war eine Knochenarbeit, die nur mit Freiwilligen – Architekturstudenten aus ganz Europa – gemeistert werden konnte. Sonst wäre auch das Kostenlimit von 1,9 Millionen Mark nicht zu halten gewesen. Zwei Drittel der Kosten wurde durch Gelder der Gemeinde und Spenden aufgebracht. Die drei erhalten gebliebenen Glocken der Versöhnungskirche, gegossen 1894 und insgesamt über 2,5 Tonnen schwer, hätte die Kapelle ohne aufwendigen Turm nicht tragen können. Nun stehen sie in einem Holzgerüst neben der Kapelle. Morgen werden sie erklingen. Eine Glocke trägt den Spruch „Lasset Euch versöhnen mit Gott“.
Vor der Kapelle wird das schmiedeeiserne Turmkreuz der Vorläuferkirche aufgestellt. Es knickte bei der Sprengung des Turms weg, fiel in den Elisabeth-Friedhof im Osten und wurde dabei ungemein elegant verbogen. Friedhofsgärtner versteckten das Kreuz über Jahrzehnte, bis sie 1994 in der Gemeinde anriefen: „Wir haben da was für euch.“
Auch eine Kirchenbank tauchte wieder auf. Sie steht heute in der Kapelle, wo sie etwas fremd wirkt. Wie das Altarkreuz war die Eichenbank vor der Sprengung sichergestellt worden – ein „führender Kulturschaffender der DDR“ habe sie sich unter den Nagel gerissen, erzählt ein Kirchenmann. Die Kirchenbank diente als Gag in dessen Privatsauna. Als der DDR-Bonze nach dem Mauerfall knapp bei Kasse war, verkaufte er sie für 3.000 Mark an die Gemeinde.
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