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Die Rückkehr zum Normalzustand

In Potsdam wurde die erste deutsche Ausbildungsstätte für Rabbis seit der Schoah eingeweiht. Gegründet von der liberalen Minderheit der Juden

von PHILIPP GESSLER

Wenn ein hoher Feiertag naht, haben viele jüdische Gemeinden in Deutschland neben aller Freude ein Problem: Denn wenn in der Synagoge ein Rabbiner dabei sein soll, bleibt oft nichts anderes übrig, als ihn aus der Ferne herzuholen, manchmal gar aus den USA. Allein in New York gibt es 200 Rabbiner, in Deutschland dagegen nur knapp 30. Und von denen leben viele noch nicht mal hier. Dass dies für über 80.000 Juden hierzulande zu wenig ist, spürt jede(r) Gläubige seit Jahren. Seit gestern besteht Hoffnung auf ein Ende der Misere.

Denn im Nikolaisaal von Potsdam wurde am Vormittag mit Wein, Bagels, rund 400 Gästen und einiger politischer Prominenz die erste Ausbildungsstätte für Rabbiner in Deutschland seit der Schoah eröffnet: Das „Abraham-Geiger-Kolleg“, das an das „Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien“ der Universität Potsdam angeschlossen ist. Dies kennzeichne „einen neuen Abschnitt in der Nachkriegsgeschichte der Juden in Deutschland“, schreibt Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) in einem Grußwort.

Die Gemeinden wachsen

Denn in den deutschsprachigen Ländern wurden seit dem Holocaust keine Rabbiner mehr ausgebildet – von Rabbinerinnen ganz zu schweigen. Frisch ausgebildete Geistliche aus den USA, England oder Israel müssen – oft mit Hilfe von nicht wenig Geld – dazu überredet werden, im Land der Täter zu amtieren, in dieser schwierigen Sprache, einer fremden, christlich geprägten Kultur.

Dabei ist die Aufgabe reizvoll: Seit dem Zuzug von Juden aus der UdSSR Anfang der Neunzigerjahre gehört das Judentum in Deutschland zu den am schnellsten wachsenden Gemeinschaften weltweit. In zehn Jahren hat sich die Zahl der Juden in der Bundesrepublik fast verdreifacht. Selbst in Kleinstädten gründen „die Russen“ neue Gemeinden – auch wenn sie, aufgewachsen in der säkularen Sowjetunion, von ihrer Religion meist nur wenig wissen.

„Die Gründung des Rabbiner-Kollegs ist ein Schritt, auf den die Juden in Deutschland 50 Jahre gewartet haben“, erklärt denn auch Andreas Nachama, der in Berlin der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands vorsitzt. In einem fünfjährigen Lehrgang sollen pro Jahr eine Hand voll Männer und Frauen eine rabbinische Ausbildung erhalten – samt einem Magisterabschluss in Judaistik. Letzteres konnte man zwar schon in Heidelberg studieren, Rabbiner werden aber nicht. Anfragen nach einer Aufnahme in das Kolleg, das im Wintersemester 2001/2002 den Lehrbetrieb aufnehmen soll, gibt es sogar aus Portugal.

Doch die Freude ist bei vielen getrübt – vom Zentralrat der Juden in Deutschland habe man „bisher keine Unterstützung“ bekommen, stellte Oberrabbiner Walter Jacob, der Gründungspräsident des Kollegs, am Freitag fest. Auch Nachama konstatiert „zunächst große Skepsis“ vonseiten des Zentralrats.

Mutterland der Liberalen

Die Gründe für diese Reserviertheit liegen auf der Hand: Das Kolleg will liberale Rabbiner ausbilden, während die überwiegende Mehrheit der Gemeinden in Deutschland und auch der Zentralrat traditionell-orthodox ticken. Etwa 80 Gemeinden hängen dieser Glaubensrichtung an, nur etwa ein Dutzend Gemeinden mit etwa 2.000 Mitgliedern gelten als liberal-progressiv. Orthodoxe Gemeinden würden eine Rabbinerin nie akzeptieren, progressive schon.

Das Abraham-Geiger-Kolleg stärkt also massiv das liberale Judentum in Deutschland. Es ist eine Art Rückkehr, denn hier entstand und blühte diese Frömmigkeitsform im 19. Jahrhundert. Der liberale Rabbi Abraham Geiger gründete in Berlin eine Lehranstalt zum Studium des Judentums. Daraus erwuchs die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“. Führende jüdische Wissenschaftler wie Leo Baeck lehrten an ihr. Die erste Rabbinerin der Welt, Regina Jones, lernte hier, bis die Hochschule 1942 von den Nazis aufgelöst wurde. Während das liberale Judentum danach vor allem in den angelsächsischen Ländern weiterlebte, brach diese Tradition im Mutterland ab: Nach dem Holocaust blieben vor allem jüdische „displaced persons“ aus Osteuropa, knapp den KZ entronnen, in Deutschland hängen, und die waren fast alle orthodox. Das Kolleg sieht sich in der Tradition der Berliner Hochschule, in deren früherem Bau heute der Zentralrat sitzt.

Der Zentralrat hat noch ein weiteres Problem mit dem Kolleg: Es wird vor allem getragen von der „Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz“. Auch wenn sich die Union nur als religiöse Vereinigung begreift, ist sie vielen in der politischen Vertretung Zentralrat suspekt – bisher gab es keine offiziellen Gespräche zwischen Vertretern der beiden Verbände. Die Kritiker der „Union“ fürchten nämlich, sie könnte mittelfristig zu einer Spaltung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland beitragen, das Prinzip der „Einheitsgemeinde“ zerstören. Nach diesem Prinzip sind, anders als vor der Nazizeit und anders auch als überall sonst auf der Welt, in Deutschland alle Juden einer Stadt, gleich welcher Glaubensrichtung, in einer Gemeinde zusammengefasst – eine politische Konsequenz aus der nach dem Krieg bestehenden Diaspora.

Zwar bestreitet Jan Mühlstein, Vorsitzender der Union, dass gestern tatsächlich der Grundstein für die Spaltung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gelegt wurde. Er betont auch, dass man, im Gegensatz zum Zentralrat, nur ein religiöser Verband sei. Gleichzeitig aber ist er überzeugt, dass das Judentum hierzulande in wenigen Jahren bedeutend pluraler und auch in verschiedenen Organisationen verfasst sein werde. Damit kehre man jedoch lediglich zum „Normalzustand“ zurück.

Offenkundig ist, dass die Union schneller auf den Rabbinermangel reagiert und mit dem Kolleg ihre Stellung ausgebaut hat. Und hier kommt Walter Homolka, der Chef der Kulturstiftung der Deutschen Bank, ins Spiel. Er konvertierte mit 17 zum Judentum, erwarb die Rabbinerwürden und war erster Geschäftsführer von Greenpeace in Deutschland – vor allem aber auch Gründungsmitglied der „Union“. Der Stiftungsfonds Deutsche Bank im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft unterstützt das Kolleg mit viel Geld: 850.000 Mark stellt er der Uni Potsdam für eine neue Professorenstelle in Religionswissenschaften, „Schwerpunkt rabbinische Studien“, bereit. Ohne diese Professur und Homolka wäre es kaum zur Gründung des Kollegs gekommen.

Dumm nur, dass der Zentralrat Probleme mit Homolka hat. Ende 1999 fertigte Zentralratspräsident Paul Spiegel den Stifter laut Berliner Tagesspiegel noch so ab: „Er soll uns in Ruhe lassen. Wir akzeptieren ihn nicht.“ Ob das Kolleg unter diesen Vorzeichen wird blühen können?

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