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Kuhmist statt Dogmen

Apokalypse jetzt und später: Versicherungen sehen die „Grenze der Versicherbarkeit“ gekommen, die Klimaforscher reden von „Anpassung“, und Michel Houellebecq findet das Leben fast schon schön

Die Klimakatastrophe steht bevor. Wir passen uns an. Das ist ein Pragmatismus, den man früher nur aus der Versicherungsbranche kannte

von VOLKER WEIDERMANN

Die Fackeln werfen ein unruhiges Licht auf den blutroten Teppich am Eingang des Luftschlosses vor dem provisorischen Kanzleramt auf Berlins Schlossplatz. Ein großer blonder Herr im cremefarbenen Mantel weist schweigend den Weg hinein. Und dort: ein schwarzer Gang, mit Schwarzlicht schwach erleuchtet, auf silbernen Pyramiden thronen Bildschirme, die alle synchron Filme verheerender Naturkatastrophen zeigen. Lawinen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Sintfluten. Wassermassen stürzen auf den Betrachter ein. Diesen Film kann der Kameramann unmöglich überlebt haben. Am Ende nur Verwüstung, Zerstörung, Vernichtung, letzte Spuren alltäglicher Weltuntergänge. Am Ende: Nichts. – Neben jedem Bildschirm reichen lächelnde Kellnerinnen Sekt und Orangensaft auf silbernen Tabletts.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. hat zu seiner alljährlichen Dialogveranstaltung „Versicherungen im Gespräch“ geladen. Thema heute: „Katastrophe Natur? Strategien zur Bewältigung von Naturkatastrophen“. Etwa dreihundert Herren in grauen oder schwarzen Anzügen legen das verteilte zweihundertseitige Hochglanzbuch zum Thema des Abends (von Seite 18: „Die Sintflut im Alten Testament“, über Seite 146: „Naturkatastrophen und globale Klimagefährdung – Standpunkte der Versicherungswirtschaft“, bis zu Seite 180: „Der Treibhauseffekt – Ursachen, Folgen, Gegenmaßnahmen“) neben ihre roten Stühle und nehmen gespannt Platz.

Die Versicherungsbranche ist alarmiert: Nach Angaben der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft, dem größten Rückversicherer der Welt, hat die Zahl der Naturkatastrophen in den letzten vierzig Jahren weltweit um das Dreifache zugenommen. Gleichzeitig hat sich die durch Naturkatastrophen verursachte Schadenssumme, inflationsbereinigt, verneunfacht und – das ist hier in diesem Kreise die nun wirklich alarmierende Zahl – „die Summe der versicherten Schäden ist sogar um das Sechzehnfache gestiegen“, so der Präsident des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft, Bernd Michaels, am Mittwochabend in jenem Katastrophenzelt im Kreise seiner Kollegen. Das hat nicht nur der Münchener Rückversicherung im abgelaufenen Bilanzjahr das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte, die immerhin bis ins Jahr 1880 zurückreicht, beschert. Die ganze Branche zittert vor der Natur und ihrer Macht.

Vor der Natur? Sie zittert vor dem Menschen. Denn dass dieser kontinuierliche Katastrophenanstieg kein naturgegebener Zufall ist, dass ist mittlerweile auch der Versicherungsbranche klar: „Der Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung, Kohlendioxidausstoß und der Häufigkeit und Schwere wetterbedingter Katastrophen ist inzwischen zweifelsfrei erwiesen“, erklärte der Chefforscher der „Münchener Rück“ kürzlich in einem Interview. Daraus folgt, dass weite Teile der Versicherungslobby vehement die Ökosteuer unterstützen (die Forderung, die Einnahmen hieraus ausschließlich für Ökoprojekte zu nutzen, fand lang anhaltenden Beifall) und dass sich die rot-grüne Bundesregierung von Versicherungsmanagern schon sagen lassen muss, man hoffe, dass die Umweltpolitik bei der derzeitigen Regierung bald wieder einen höheren Stellenwert einnehme.

Die Branche zittert. Die Klimakatastrophe ist da und hat den Versicherern in den letzten Jahren die Bilanzen verhagelt. Für die Zukunft fürchtet man, von (versicherten) Sintfluten davongespült zu werden. Nicht nur die dramatische Inszenierung des Katastrophendialogs im Berliner Luftschloss trägt panikartige Züge, die schrill auf einen drohenden Weltensturz hinzuweisen scheinen, nein, von Versicherungsmanagern, Verantwortungsträgern hört man in letzter Zeit schon manchmal die Worte, die bislang noch niemand zu sprechen wagte, die Worte vom Ende aller Sicherheit auf Erden, die Worte von der „Grenze der Versicherbarkeit“. Schon heute sei diese Grenze im Bereich Überschwemmungen erreicht, sagt Bernd Michaels an diesem Abend, und weitere Eingriffe des Menschen beschleunigten diesen Prozess scheinbar unaufhaltsam. Sein dramatischer Appell: „Versicherung kann das Fehlverhalten der Gesellschaft nicht abdecken oder gar rückgängig machen. Wenn den betroffenen Menschen dann nicht nur die finanziellen Folgen nicht mehr ersetzt werden, müssen soziale Probleme in erschreckendem Umfang auftreten.“ – Die Grenze der Versicherbarkeit ist da. Die Apokalypse kommt. Die Versicherungen steigen aus. Die Künder der apokalyptischen Visionen erscheinen im neuen Jahrhundert in erstaunlich neuer Gestalt. Und selbst die nicht gerade als Umweltblättchen bekannte FAZ kommentierte am Samstag auf Seite 1 anlässlich des zurzeit in Den Haag tagenden Klimagipfels die drohende Umweltkatastrophe mit einem fröhlichen „Die Zeichen stehen unverkennbar auf Sturm“ und bekennt freimütig, dass die gegenwärtige Entwicklung den „Unheilsverkündern“ Recht gebe.

Währenddessen scheint unter den Klimaforschern in Den Haag eine erstaunlich neue Nüchternheit eingezogen zu sein. Natürlich wiederholten die Experten schon im Vorfeld die Selbstverständlichkeiten, dass „für diplomatische Bedenkpausen keine Zeit mehr“ bleibe, kritisierten das unwürdige Emmisionsgeschacher und die zu erwartende Halsstarrigkeit der USA. Aber unter den Forschern ist man schon weiter. Unter der inzwischen als unvermeidbar angesehenen Prämisse, dass die Klimakatastrophe kommen wird, muss nach Ansicht der Experten, auf dieser Konferenz und in der Zeit danach ein neues Thema ins Zentrum treten: Anpassung. In dem 2001 erscheinenden Bericht des internationalen UN-Klimarates, aus dem im Vorfeld des Den Haager Gipfels bereits Auszüge bekannt wurden, werden weltweit notwendige Methoden der Anpassung an den kommenden Klimawandel zentrales Thema sein. (siehe auch taz vom 14. 11.) Anpassung, das heißt höhere Dämme, andere Pflanzen in der Landwirtschaft, anderer Umgang mit Wasser, Gesundheitsvorsorge, allgemein: das Entwickeln politischer Vorgaben für die Veränderungen, die bevorstehen. – Die Klimakatastrophe steht bevor. Wir passen uns an. Das ist ein Pragmatismus, den man früher nur aus nüchteren Bereichen wie der Versicherungsbranche kannte.

Untergangsstimmung, where have you gone? Ein Jahrhundert ging zu Ende, und außer dem großartigen Milliardengeschäft der Computerindustrie mit der Nulljahr-Panik, blieb es überall verdächtig still. Und selbst ein Michel Houellebecq, der mit seinen Menschenuntergangsvisionen in kürzester Zeit zum einsamen Star des Jahrhundertabschieds wurde, ist in seiner neuesten Erzählung „Lanzarote“ auf wundersame Weise weltbeglückt und zuversichtlich. Zwar preist er hier die kanarische Inselwelt ob ihrer postapokalyptisch kargen Gestalt, doch findet der Houellebecqförmige Ich-Erzähler (nach gefundenem Liebesglück) zu ganz neuen optimistischen Weltansichten, wie etwa „Man kann sehr gut leben, ohne sich etwas vom Leben zu erhoffen. Das ist sogar meistens der Fall“, die ein Menschen- und Weltenende kaum noch wünschenswert erscheinen lassen.

Was soll man auch groß schreiben, nachdem der Untergang zur Versicherungsfrage wurde ... Nur Alexander Kluge macht aus der neuen Nüchternheit noch große Literatur. In seiner gerade erschienenen mehr als zweitausendseitigen „Chronik der Gefühle“ werden die Vorbereitungen für das Weltenende als Bilanzzählung für den Schadensfall (d. i. die Vernichtung des Planeten) geschildert. Ein Xaver Holtzmann hat, gesponsert von dem UN Environment Programme (dessen Direktor Klaus Töpfer übrigens, nicht bei Kluge, sondern in der Wirklichkeit, eine weltweite Versicherungspflicht für Industrieunternehmen gegen Umweltschäden fordert) und anderen Organisationen, eine Eröffnungsbilanz zum 21. Jahrhundert vorgelegt und die Tiere und Menschen gezählt, gewogen und bewertet. „Hinzu tritt bei Verlust des Planeten: Erdöl, Kohle, Bodenschätze, umbauter Raum, Antiquitäten.“ Wobei eine Fußnote darauf verweist, dass „der entgangene Gewinn, d. h. noch nicht gehobene Bodenschätze für eine Sammelklage unerheblich“ seien.

Später, genauer im Januar 2011, wird die Erde wirklich vernichtet. Nicht durch die Klimakatastrophe, sondern durch einen „Kernbandprozess“. Und die wenigen überlebenden Menschen, die sich auf dem Mars einfinden, streiten natürlich über nichts anderes als über Schadensersatz- und Versicherungsfragen. Der zufällig gerettete Kleingärtner Helmut Heuber etwa erstreitet sich immerhin zwei Morgen Erdbeer- und Gemüseland zurück, und der Mars-Advokat Treitschke bemüht sich lange Zeit „Regressansprüche an die Marsadministration“ für die Totalversehrten von der Erde geltend zu machen, „die in großen durchsichtigen Tüten an der Wand eines temperierten Raumes hingen und sich nicht äußerten“. Später richtet man für solche und ähnliche Fragen einen ganzen Planeten ein, einen „Zentralen Justizplaneten“, auf dem nach Belieben prozessiert und schadenseratzgeklagt werden kann.

Ach. Da wurde früher angesichts des Weltuntergangs doch Wesentlicheres befürchtet. In den 70ern, den 80er-Jahren, den großen Untergangsjahrzehnten, als das Weltenende praktisch täglich hereinzubrechen drohte, da wurden die allergrößten Ängste so gründlich ausgelebt, dass nun, am neuen Jahrhundertbeginn, keine Angst mehr wirklich ernst genommmen wird. Damals, in der Folge des Club-of-Rome-Berichts über die Grenzen des Wachstums und Hans Magnus Enzensbergers wegweisendem Essay „Zur Kritik der politischen Ökologie“ von 1973, in dem er die Verwirklichung eines ökologisch bewussten Sozialismus zu einer „Frage des Überlebens“ erklärt hatte und damit die politischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre zu einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod machte, ja, damals ging es noch um buchstäblich alles. Der Ausweg, den Enzensberger damals wies, hieß China und die Poltik Mao Tse-tungs, der als einziger Staatsmann „konsequente Strategien zur Verhinderung der Katastrophe entwickelt“ habe.

„Kuhmist ist wichtiger für China als Dogmen“ ist das euphorisch zitierte Mao-Motto, das Enzensberger ganz im Ernst wegweisend erscheint. Bei Kluge nun, heute, sind es auch die Chinesen, die jene Weltzertrümmerung überraschend überlebten und sich nun auf der verwaisten Erde ungehindert ausbreiten. Ihre Botschaft an die Marsflüchtlinge: „Ihr könnt dem Mao Tse-tung-Denken nichts anhaben.“ Bei Kluge ist das natürlich nicht mehr als ein guter Witz. Die Rettung von Mao? Die Rettung kommt als Versicherungspolice.

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