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Die Grammatik der Visual Culture

Jeans auf Holz: Der in London lebende Fotograf Wolfgang Tillmans hat den renommierten Turner-Preis gewonnen

In der englischen Presse war man sich einig. Endlich einmal sollte wieder ein Maler den mit 20.000 Pfund dotierten Turner-Preis gewinnen. Keine in Gips abgegossenen Abbruchhäuser wie bei Rachel Whiteread 1993, keine zerlegten Damien-Hirst-Kühe, die 1995 vorne lagen; und, bitte, nicht schon wieder Medienkunst. Immerhin ist der Preis nach Joseph Mallord William Turner, dem großen Landschaftsmaler des frühen 19. Jahrhunderts, benannt. Und immerhin finden sich auch auf den Gemälden von Michael Raedecker Alleebäume, Wiesen und triste Orte wieder – alles jedoch mehr industriegrau als Turner-gelb.

Der 1963 in Amsterdam geborene und seit Mitte der Neunzigerjahre in London lebende Raedecker galt Anfang November als Favorit für den weltweit renommiertesten Kunstpreis, gleich vor seinem malenden Kollegen Glenn Brown, der mit der Akribie eines Kunstfälschers Dalí, Auerbach oder Science-Fiction nachmalt, dann aber Details verändert. Die japanische Bildhauerin Tomoko Takahashi dagegen wurde nicht recht ernst genommen für ihr raumfüllendes Schrott-Arrangement, das als Auseinandersetzung mit ihrer gescheiterten Führerscheinprüfung gemeint war.

Und dann, am Ende: doch keine Malerei. Trotz ausgiebiger Lobartikel in Guardian, Times und Independent. Der Fotograf Wolfgang Tillmans ist Dienstag abend um 22 Uhr auf Channel 4 zum neuen Turner-Preisträger ernannt worden, nachdem er zuletzt auch bei den britischen Buchmachern vorne lag.

Dass sich die Jury aus internationalen Kunstkritikern und dem Direktor der Londoner Tate-Gallery, Nicholas Serota, auf Tillmans einigen konnte, ist nur zum Teil ein Sieg der Fotografie. Tatsächlich kommt der 32-jährige Remscheider, der seit 1992 in England lebt, aus dem ansonsten eher unschicklichen Bereich der Mode- und Hochglanzmagazine. In den letzten Jahren hat sich Tillmans jedoch vor allem bemüht, diese Trennlinie konzeptuell aufzuweichen: Statt augenblickshafte Schönheit zu inszenieren, prüft er die Grammatik der Visual Culture. Deshalb setzt er seine Fotos auch in der Ausstellung als Produkt verschiedener Medien ein, indem dann überdimensionale Digitalprints neben Abzügen in Fotoalbumgröße oder ausgerissenen Zeitungsseiten hängen.

Tillmans baut Sätze mit Bildern je nach der Gemengelage des Alltags. Das Lächeln von Kate Moss trifft mit unspektakulären Portraits aus dem Freundeskreis oder Stilleben scheinbar flüchtig hingeworfener Klamotten zusammen. Kategorien für all diese Dinge existieren nicht, Tillmans reagiert einfach mit ungeheurem Interesse auf die ihn umgebende Welt, in der das mediale Flimmern von Images und intime, wenn nicht authentische Situationen sich immer mehr ineinanderschieben. „Wie lässt sich Nähe vermitteln?“ Mit dieser Frage ist Tillmans gar nicht so weit von der Malerei etwa eines Gustave Courbet entfernt.

Oder von Pornografie. Mit diesem Vorwurf wurden seine für den Turner-Preis ausgewählten Fotos vom Daily Telegraph kommentiert. In England galt Tillmans kurzerhand als „shock artist“, weil auf einigen seiner Arbeiten männliche Genitalien zu sehen sind. Als Tillmans im Oktober bei der „Apocalypse“-Ausstellung in der Londoner Royal Academy of Arts beteiligt war, sah Richard Cork von der Times auf einem Bild den vergrößerten Schritt eines Mannes, wo in Wirklichkeit bloß eine abgeschnittene Jeans auf ein Holzbrett gespannt war. Natürlich sind solche Fehlleistungen beim Betrachten von Fotos amüsant. Bei Tillmans sind sie ein Beleg, wie nah Image- und Wunschproduktion beieinander liegen. Dafür hat er den Turner-Preis durchaus verdient. HARALD FRICKE

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