AUCH WENN IN SEBNITZ KEIN RECHTER MORD GESCHAH: DAS IST KEIN TROST: Es hätte passieren können
Gott sei Dank. Der Verdacht scheint sich nicht zu bestätigen, dass ein Kind von Neonazis inmitten einer Menschenmenge zu Tode gequält wurde und dass sich danach eine ganze Stadt an einem Kartell des Schweigens beteiligte. Diese Untat hat sich offenbar nicht ereignet. Haben also diejenigen Recht, die schon lange meinen, die Gefahren des Rechtsextremismus würden übertrieben dargestellt? Das wäre schön. Aber leider ist es nicht so.
„Das Schlimmste an diesen Zitaten allen ist, dass man sie für möglich hält“, dichtete Erich Kästner im Jahre 1929. Die Tatsache für sich allein genommen ist entsetzlich, dass viele vernünftige Leute den Verdacht eines rassistisch motivierten Kindermordes für begründet hielten. Nein, damit soll nicht die in Teilen reißerische und unseriöse Berichterstattung in diesem Zusammenhang entschuldigt werden. Auch nicht die ebenfalls unseriösen und vorschnellen Reaktionen mancher Politiker. Aber die Medien haben in den letzten Tagen ja nicht über ein von Marsmenschen verübtes Verbrechen berichtet. Neonazis gibt es.
Bedauerlicherweise ist es eben durchaus vorstellbar, dass ein Kind aus rassistischen Gründen ermordet wird und die zuständigen Behörden nicht genug Interesse an der Aufklärung des Falles aufbringen. Es wäre lediglich eine graduelle Steigerung der Gewaltbereitschaft gegenüber jenen, die fremdartig erscheinen, nicht aber ein qualitativer Sprung in diesem Bereich der Kriminalität. Kinder mit dunkler Hautfarbe sind bereits in der Öffentlichkeit bedroht und angegriffen worden, ohne dass jemand sie beschützt hätte. Erwachsene, die anders aussehen als die Mehrheit hierzulande, wurden ermordet oder in den Tod gehetzt.
Kaum jemandem gefällt das, und deshalb ist die Sehnsucht nach Entlastung groß. Jedes Mal ertönt ein kollektiver Stoßseufzer der Erleichterung, wenn sich herausstellt, dass andere als politische Beweggründe hinter Verbrechen an Angehörigen von Minderheiten stecken. Gerade so, als ob sich individuelle Racheakte oder auch Unglücksfälle gegen rassistische Verbrechen aufrechnen ließen. Aber es hilft verängstigten ausländischen Kindern in einer Straßenbahn in Potsdam gar nichts, wenn Joseph nicht von Neonazis ermordet wurde. Sie brauchen unsere Hilfe, ganz unabhängig von den Geschehnissen in Sebnitz. BETTINA GAUS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen