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Sie ließ sich fallen

Die Treppe hinunter, den Blick auf den Boden gerichtet. Der Schwindel löst sich, die versprengten Bildteile setzen sich zusammen, und mit ihnen kommt die wütende Verzweiflung.Zwei Schritte nur

von ROSEMARIE NÜNNING

Den Blick auf den Ausgang gerichtet, auf den Boden, geht sie nicht zu schnell, wegen des leichten Schwindels in ihrem Kopf kaum wahrnehmbar schwankend um eine gerade Linie, die den Weg zum Treppenaufgang weisen würde, wäre sie denn gezeichnet.

Sie will sich noch nicht erinnern, sie will die Nähte quer zu ihren Füßen verfolgen, mit denen der graue Estrich nach Kabelarbeiten wieder verschweißt worden ist; die Farbreste, wie breit getretene schmutzige Kaugummis, betrachten, die früher weiß gewarnt hatten vor dem Bahnsteigrand; nicht auf die Schienen blicken, nicht in den dunklen Schacht, aus dem die Bahnen auftauchen, in die sie verschwinden. Sie streicht über eine ölige Schmutzspur auf ihrer beigefarbenen Leinenjacke, findet diese Bewegung plötzlich nutzlos und lässt den Arm fallen.

Dann zwingt sich doch ein Bild durch den schwindligen Nebel, eine Erinnerung an einen warmen, hellen Abend, als dieser U-Bahnhof gesperrt war. Menschen warteten, ein paar Jugendliche lehnten am Geländer über der Treppe. Sie hatte gefragt, und ein Mädchen hatte geantwortet, interessiert, aber auch teilnahmslos: Da hat sich jemand umgebracht. An jenem Abend war sie zu Fuß zum Kaufhaus, nicht weit entfernt, gelaufen.

Schritte hinter ihr stören sie. Als sie eine Stimme hört, die nur sie meinen kann – kann ich Ihnen helfen? – verspürt sie Panik. Sie wendet sich nicht um, will nicht antworten, schüttelt den Kopf und geht schneller.

Sie will nach dem Wohnungsschlüssel in ihrer Jackentasche greifen, wie nach einer Sicherheit, findet ihn nicht, stattdessen umklammert ihre Hand ein altes, zerknülltes Papiertaschentuch.

Die Schritte haben schon aufgegeben, entfernen sich zögernd in die andere Richtung.

Zum Kaufhaus war sie damals gegangen, und, ja, eine junge Frau hinter dem Informationsstand hatte einer anderen vor ihr, vielleicht einer Freundin, lebhaft von der Wohnung erzählt, die nur achthundert Mark kostet – achthundertzwanzig genau, na ja, Kaltmiete, toll saniert, nicht so groß, aber wirklich super und mit zwei Einkommen kein Problem, und ist doch besser jetzt, früher haben sie ja nichts gemacht an den Wohnungen, und immer die Kohlen schleppen –, weiß jetzt wieder, wie sie ihrer eigenen Freundin davon berichtet hatte – nur achthundert Mark und Heizkosten, und Strom?, und die Betriebskostenabrechnung, meistens musst du nachzahlen, und Telefon und die Gebühren fürs Fernsehn? –, erinnert sich an einen anderen Tag, als sie ihrer Freundin etwas Gutes berichten konnte, dass sie Arbeit gefunden hatte in ihrem alten Beruf.

Zum Italiener an der Ecke hatte sie die Freundin eingeladen, sie würde wieder eigenes Geld haben, nicht mehr zum Sozialamt, auf den ewig langen, abgeschabten Fluren warten, sich überheblich behandeln lassen müssen – wer will, kann auch Arbeit finden, bringen Sie das nächste Mal die Liste mit Ihren Bewerbungen mit, Sie können doch auch was anderes machen, muss es unbedingt Frisöse sein? Sie wissen, wenn Sie sich nicht bemühen, können wir Sie auch zur Arbeit heranziehen.

Zur Arbeit heranziehen, wie sie das ausdrückten, heranziehen, wie zu einem Liebhaber, den sie ungerechtfertigt abweisen wollte, als wollte sie keinen Liebhaber, keine Arbeit . . ., aber nicht jeden, nicht jede. Heranziehen, sagten sie, nicht zwingen. Nicht alle waren so, aber diese, noch ahnungslos, dumm.

Hinter ihrem Rücken, Stuhlrücken an Stuhlrücken, eine andere vor dem anderen Sachbearbeiter, deren Leben, wie ihres, öffentlich verhandelt wurde. – Allein erziehend? Und der Vater? Vaterschaftsanerkennung? – Und wie sie sich jeweils verteidigten. – Ich suche doch Arbeit! – Ich habe doch keinen Kontakt mehr zu ihm!

Mit dem Schein, endlich ausgehändigt, dann in der Schlange vor der Kasse stehen, manchmal Streit, weil sich jemand vordrängeln will, manchmal der Bierdunst Betrunkener, manchmal Pöbeleien – die holen sich doch überall Geld, die fahren doch mit dem Mercedes betteln. Und die so Angepöbelten blickten dann unbewegt nach vorn. Sie ahnten, dass sie gemeint waren, und konnten sich nur in ihrer eigenen Sprache wehren. Und meist griff dann doch jemand ein, was das solle, schließlich gehe es doch allen hier gleich beschissen. Und sie fühlte sich dann entlastet, dass es gesagt worden war. Draußen musste sie jedes Mal tief Luft holen, spüren, dass sie noch sie war, dass sie einen Wert, dass sie Würde hatte.

Ihrer Freundin hatte sie beim Italiener auch wieder von der Arbeit auf dem Weihnachtsmarkt erzählt, Handschuhe und Wollmützen verkaufen. Die vom Sozialamt war zufrieden – na sehen Sie, wenigstens etwas, es geht doch –, und sie hatte sich wochenlang den Arsch abgefroren. Die rote Mütze mit dem flackernden Lichtband, die sie tragen sollte, hatte sie ja anfangs irgendwie witzig gefunden, irgendwann nur noch albern und dann einfach unwürdig – ich kann die Dinger nicht mehr sehen, die machen mich krank. Ein Wunder, dass ich keine Grippe gekriegt habe. Und dann dieses Gequatsche jeden Abend aus dem Lautsprecher: Ein ereignisreicher Tag geht zu Ende . . ., aber sicher, mit Wollmützen und Handschuhen und Eisfüßen.

Vorbei. In dem einen Laden hatten sie endlich gesagt: Haben Sie Zeugnisse? Sie konnte was vorweisen. Fast zwanzig Jahre hatte sie als Frisöse gearbeitet. Sie liebte es, aus glatten, dünnen Haaren eine Frisur zu schaffen, krausen, dicken eine Kontur zu geben, Wirbel zu bändigen, kahle Stellen zu verdecken, Kopfformen einzuschätzen – es gibt ja Menschen mit sehr schönen Köpfen – und bei den anderen mit den Haaren den Kopf zu formen. – Um die eins sechs werde ich kriegen, klar, könnte mehr sein, ist natürlich brutto, und das bei sechshundert Miete, wenigstens warm, aber mein Geld, nicht mehr das Gefühl haben, zu betteln! Gehört zu einer Kette, ist was Sicheres.

Vor der Freundin dachte sie nicht daran, dass ihre Arme, ihr Rücken wieder schmerzen würden nach Wochen, Monaten Arbeit, dachte nicht an die schmierigen Haare, die schwierigen Kunden. Auch über das Bittere sprach sie nicht: Eingestuft, als wäre sie Neuling, als hätte sie noch nie beraten, Frauen wie Männer bedient, geföhnt, gefärbt. Und dieser Spruch: Bei uns muss das aber alles etwas schneller gehen, nicht so wie bei Ihnen im Osten. Wie sie „Osten“ sagten, als hätte sie am Arsch der Welt gelebt.

Der erste Morgen in ihrem wiedergefundenen richtigen Dasein: Ihre Haare hatte sie sorgfältig frisiert, die helle Leinenjacke getragen. Nach der Arbeit, an ihrem Küchentisch, hatte sie geheult. Was war das mit ihr gewesen? Die Hände hatten gezittert bei der ersten Kundin, nur schneiden. Gezittert, und sie konnte es nicht unterdrücken. Sie hatte sich konzentriert, aus der Hand geschnitten, keine Klammern benutzt, damit es schneller ging, geprüft, keine unsauberen Zipfel gelassen. Wie eine Anfängerin hatte sie gezittert. Und die Kolleginnen so jung und so selbstbewusst. Erst nach der Mittagspause war es langsam besser gegangen.

Warst eben aufgeregt, ist ja auch total wichtig für dich, hatte ihre Freundin gesagt.

Und dann bin ich noch „Monika“ da, wenn’s hoch kommt, „Frau Monika“. Die Chefin ist natürlich Frau Müller-Meier.

Ist doch egal, Hauptsache, du hast die Arbeit, meinte die Freundin.

Die Arbeitsroutine war schließlich zurückgekommen, auch die Routine der Pausen, meist in einem Winkel des Ladens zwischen Farben und Sprays, wo sich die chemischen Dämpfe verdichteten. Wie in dem Klo, nur durch eine dünne Wand von der Warteecke abgetrennt . . . peinlich, wenn Kunden daneben saßen. Sie vermied es, hinzugehen, wartete bis zur Mittagspause.

Die Gespräche, wenn sie einen Moment zusammen hatten und die Chefin nicht da war: Alt werde ich hier nicht, ich mach den Meister, oder Maskenbildnerin. – Ich bin zu jung, um hier zu versauern. – Vielleicht den eigenen Laden aufmachen, so was wie in der Stargarder, mit Wartenummern, Katterin, Härsteilistin sein, nicht Frisöööse, schicke Frisuren für junge Leute machen und geile Musik den ganzen Tag und nix mit Frau Chefin, alle gleich da.

Sie wollte sie dann nicht entmutigen, wollte selbst Möglichkeiten darin hören, nicht mehr jung, schon zweiundvierzig. Aber sie musste denken, Wartenummern wie im Arbeitsamt oder vor der Fleischtheke, waschen, schneiden am Fließband, nicht mal über das Wetter schwätzen, den Urlaub, die Sorgen mit den Kunden, alle auf Du, aber am Morgen kommt Du-Chef mit dem Sportwagen, und Du-Katterin-Steilistin fährst mit dem Fahrrad, und immer in diesem Dunst der Luftschlösser von Jugend und geiler Musik, kein Haarkranz um die Glatze, keine Dauerwelle für die ausgedünnten Haare einer Achtzigjährigen, kein Alter, keine Erfahrung. Sie sagte auch nicht, es gibt zwei neue Friseurläden hier. Sie warf ein: Oder fettige Kanzlerhaare waschen im Hilton. – Wäscht der bestimmt selbst, von wegen sparen. – Hat er doch keine Zeit für, muss doch regieren. – Lässt waschen, hat ja genug Geld. – Die Schmalzlocke im Nacken pflegen. – Ist doch weg, hat ein neues Steiling verpasst bekommen. – Und kicherten.

Gesichter kommen ihr die Treppe herunter entgegen, sie versucht, an den flüchtigen Blicken vorbeizuschauen, auf ein Konzertplakat an der Wand. In einem Drogeriemarkt hatte sie mal eine CD gekauft, billig, direkt vor der Kasse aus einer Schachtel gefischt, mal ausprobieren. Brandenburgkonzert oder so. Zuweilen hatte sie es laut gehört und darin etwas für sich gefunden, das Gewichtige, oder das Heitere, dann wieder, wie gestern Abend, hatte sie es nach den ersten Takten ausgeschaltet, weil sie es plötzlich nicht ausstehen konnte.

Der Schwindel löst sich, die noch versprengten Bildteile setzen sich zusammen, und mit ihnen kommt die wütende Verzweiflung, die Hilflosigkeit der zurückliegenden Wochen.

Vielleicht kam gestern der letzte Anstoß, ein Zuviel. Beim Arzt war sie gewesen, hatte ihm erzählt von ihrer rastlosen Schlaflosigkeit nachts, der Müdigkeit und den lähmenden Kopfschmerzen tags. Er war verständnisvoll, machte Vorschläge – Schwimmen, Sport treiben, holen Sie sich aus der Apotheke dies, vielleicht noch jenes, verschreiben kann ich das nicht, solange Leute sich ihr Bier und ihre Zigaretten leisten, können sie sich auch . . . –, sprach über Leute, fragte nicht sie, sagte nur einen letzten Satz: Sie müssen sich selbst auch etwas bemühen.

Draußen auf der Straße hatte sie die Worte in ihrem Kopf zerkaut, konnte sich nicht lösen davon, hörte den Tonfall wieder und wieder. Wie zu einem Schulkind – wenn du dich nicht bemühst, dann . . .

Und wenn ich mich bemühe, aber keinen Erfolg habe, wenn ich mich bemühe, und niemand will es sehen, will es wirklich wissen?

Auch diese Nacht kam der Schlaf nicht, und in den wenigen Minuten schweren Träumens wanderte sie durch Labyrinthe, stolperte über Spraydosen, erschrak vor dem verzerrten Tapetenmuster, das die Wände auswegloser Gänge kriechend überzog. Und wach erkannte sie das Muster aus dem alten Friseurladen, in dem sie so viele Jahre gearbeitet hatte, bis er sich nicht mehr trug – sich nicht mehr trug. Und wieder im Traum, stand sie angstvoll am Schwimmbecken, dessen Wasser versickerte, als sie springen wollte, zog aus einer roten, blinkenden Pyramide ein Los, das sich in ihrer Hand in eine Wartenummer verwandelte.

Sie hatte aufgegeben, bevor das nächtliche fahle Stadtlicht verdrängt wurde von der frühen Tageshelligkeit, die das schwere Gewebe in ihrem Gehirn nicht vertreiben konnte.

An diesem Samstagmorgen, heute, hatte sie sich entschieden. Und auch nicht entschieden. Am Küchentisch hatte sie gesessen, gedacht, wie müde sie sei, den Moment gesehen, als verkündet wurde: Wir können nicht alle Läden halten, nicht alle Mitarbeiter übernehmen. Die Chefin würde eine andere Filiale leiten. Und sie war zuletzt eingestellt worden, hatte nach der kurzen Zeit keine Ansprüche – zu haben. Den letzten Arbeitstag vor Augen, ein Blumenstrauß zum Abschied. Sie hatte ihn draußen irgendwem in die Hand gedrückt, den verdutzten Ausdruck nicht mehr gesehen.

An diesem Morgen war sie schließlich vom Küchentisch aufgestanden, hatte aufgeräumt, ihr Haar frisiert, ihre Arbeitswerkzeuge in die Schublade gelegt, daran gedacht, wie teuer die Schere gewesen war, wie müde sie war, gedacht: Es geht doch, dann: Es ist zu früh, dann: Niemand will es sehen. Ihre Gedanken waren durch die Sozialamtsflure getrudelt, über den Weihnachtsmarkt, durch die Haare von Kunden, hatten sich eine Weile festgebissen . . . müde, zu früh . . . Sie nahm ihre helle Jacke, zog die Tür hinter sich zu, dachte nicht an den Schlüssel. Sie ging zur Kreuzung, fühlte Leere, einen Schwindel, sah nicht den Himmel, spürte nicht die wärmende Sonne und nicht die Kühle, als sie in den U-Bahn-Schacht trat. Dann hatte sie gewartet, auf einer der kalten Gitterschalen, die die alten Holzbänke ersetzt hatten, gesessen.

Jemand setzte sich neben sie, einer fragte irgendetwas, irgendwer ging vorbei. Sie starrte auf die Wand gegenüber, ihr Blick wanderte ohne Ziel über die vergraute Plakatwand, sah nicht den Schriftzug darin, schnörkelig, Linienstraße, das Frauengesicht im großen Oval, traurige Augen, die Parole „Tötet Liebknecht“, verfing sich doch in kleinen schwarzen Filzstiftkreuzen auf gelben Kacheln, markiert zum Abschlagen, abgeschrieben, ausradiert.

Beim entfernten Rauschen einerU-Bahn stand sie auf. Ging auf den Bahnsteigrand zu. Blieb stehen. Machte zwei weitere Schritte. Überlegte nicht, plante nicht.

In ihrem Gehirn begann es wieder zu kreisen. Ich werde gesehen . . . müssen mich sehen . . . sehen müssen . . . es geht doch . . . früh . . .

Sie ließ sich fallen. Fiel senkrecht. Fiel, wie sie als Kind von der Kante eines Schwimmbeckens geplumpst war. Lag, Schottersteine, Schwellen in ihrem Rücken, das Eisen der Schiene gegen ihren Arm gepresst, schloss die Augen, ließ sich von dem anschwellenden Dröhnen der Bahn überfluten, von dem rhythmischen Pochen, spürte das Zittern des Gleises. Und sieht in sich die traurigen Augen über sich hinweggehen, hört in sich die Stimme der Freundin – ist doch egal –, und darin, weit weg und näher, ein Kreischen, und will es nicht hören, und hört es, noch einmal, und wieder – haaalt!

Sie öffnet die Augen, eine Hand über ihr, ein Gesicht, sie hebt den Arm, mechanisch, verwundert, wird gezogen und lässt sich ziehen und kniet auf dem Bahnsteig, und der Zug kommt zum Halten.

Sie erhob sich von den Knien, richtete sich auf. Es war zu früh gewesen, es war nicht gegangen. Ohne in die Gesichter um sich zu schauen, ging sie langsam fort.

Rosemarie Nünning (48) arbeitete als Möbelverkäuferin und Sekretärin und studierte später, angeregt durch die 68er-Bewegung, über den zweiten Bildungsweg Grafikdesign und Medienwissenschaften. Zurzeit ist sie Korrektorin bei der taz. Im November 99 veröffentlichte sie im taz.mag eine Geschichte aus Schanghai

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