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Mitsingen vor dem Match

Russlands Präsident will Sowjethymne zur neuen Nationalhymne machen – nur mit anderem Text. Künstler sehen darin eine Verhöhnung der Opfer des Sowjetregimes

BERLIN taz ■ Im Juli beschwerten sich die Spieler von Spartak Moskau in einem Brief bei Russlands Präsident Wladimir Putin. Sie hätten die Nase voll, die Nation warte lange genug auf einen Text für die Nationalhymne. „Wir wollen nicht länger die Köpfe senken, wenn unsere Hymne gespielt wird. Das ist die beste Art, ein Spiel zu verlieren, noch bevor es begonnen hat.“

Den Kickern und allen anderen Russen, die nicht nur mitsummen, sondern auch mitsingen möchten, könnte jetzt geholfen werden. Am Montagabend kündigte Putin in einer Fernsehansprache an, er werde dem Parlament vorschlagen, die alte Sowjethymne als Nationalhymne wiedereinzuführen. Nur der Text der Melodie, die Alexander Alexandrow im Jahre 1943 als Reaktion auf erste Erfolge der Roten Armee im Kampf gegen die Hitlertruppen komponiert hatte, soll Putins Vorstellungen zufolge geändert werden.

Die Russen sollten die Errungenschaften ihrer Vorfahren nicht vergessen, sagte Putin zur Begründung seiner Entscheidung und: „Wenn wir akzeptieren, dass wir keine Symbole der vergangenen Epochen, inklusive der Sowjetepoche, mehr verwenden dürfen, dann gestehen wir ein, dass unsere Väter und Mütter umsonst gelebt haben. Dieses kann ich nicht akzeptieren, weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen.“ Dabei verwies Putin auf den Umstand, dass die Mehrheit der Russen der Wiedereinführung sowjetischer Symbole positiv gegenüberstehe. Jüngsten Umfragen zufolge sind 46 Prozent dafür, die Sowjethymne wieder aus dem Archiv herauszuziehen.

Sollte die Duma den Vorschlag Putins am kommenden Freitag absegnen, was als wahrscheinlich gilt, wäre damit ein fast zehnjähriger Streit beendet. 1991 hatte der damalige Präsident Boris Jelzin die Sowjethymne ad acta gelegt. Bei offiziellen Anlässen wird seit dem das textfreie „Patriotische Lied“ des Komponisten Michail Glinka, 1804 bis 1857) gespielt.

Doch der Vorstoß Putins stößt nicht überall auf Gegenliebe. „Der Staatschef sollte sich bewusst sein, dass Millionen Bürger nie eine Hymne respektieren werden, die ihre Überzeugungen mit Füßen tritt und die das Gedenken an die Opfer der Repressionen des Sowjetregimes verunglimpft. Wir, die Kinder Russlands, wollen in eine Land leben, wo wir uns nicht zu schämen brauchen, wenn wir uns erheben, um unsere Hymne zu hören“, heißt es in einem Brief von Künstlern und Intellektuellen, den die Tageszeitung Iswestija gestern veröffentlichte.

Mit welchen Worten das Sowjetlied unterlegt werden soll, ist noch unklar. Offiziell soll es einen Wettbewerb geben. Aber ein Kreml-Sprecher ließ verlauten, dass der Kinderbuchautor Sergej Michalkow, der jetzt 87 Jahre alt ist und auch den Text für die alte Sowjethymne schrieb, Putin schon eine Neuauflage vorgelegt habe.

BARBARA OERTEL

Zitat:Künstler und Intellektuelle:Wir, die Kinder Russlands, wollen in einem Land leben, wo wir uns nicht zu schämen brauchen, wenn wir uns erheben, um unsere Hymne zu hören

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