: „Eine Zäsur wie bei Tschernobyl“
Der Europaabgeordnete Graefe zu Baringdorf über die Folgen, die der BSE-Skandal für die Agrarpolitik der Europäischen Union haben wird
Interview MAIKE RADEMAKER
taz: Wird die BSE-Krise das Thema Umstrukturierung der Landwirtschaft zum Gipfelthema machen?
Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf: Die BSE-Krise hat in Verbindung mit den Skandalen im Futtermittelbereich, siehe Dioxin, zu einer Zäsur geführt. Genauso wie sich nach Tschernobyl eine Energiewende angebahnt hat, wird sich jetzt eine Wende anbahnen in der Logik der Erzeugung von Lebensmitteln. Nicht sofort und nicht revolutionär, aber in wichtigen Schritten. In Nizza wird es erneut um die Mitspracherechte des Europäischen Parlaments gehen. Das wäre ein wesentlicher Schritt zur Absicherung einer langfristig angelegten Durchsetzung sozialökologischer und verbraucherfreundlicher Kriterien bei der Agrarpolitik.
Wie viel hat denn das Europäische Parlament bisher dazu zu sagen?
Nach der BSE-Krise haben wir im Amsterdamer Vertrag die Mitentscheidung im Bereich Volksgesundheit und Nahrungsmittelsicherheit im europäischen Parlament bekommen. Was wir nicht erreicht haben, ist, dass für die Agrarpolitik insgesamt das Parlament das Recht auf Mitentscheidung erhielt. So waren wir zum Beispiel in der Agenda 2000 nur Anhörungsinstanz. Unsere Vorschläge in eine sozialökologische Richtung wurden vom Rat und von den Regierungschefs in der Berliner Konferenz vom Tisch gewischt. Das hätte nicht passieren können, wenn wir die Mitentscheidung in diesem Bereich schon gehabt hätten, die wir jetzt erneut fordern. Die konsequente Rolle des Europaparlaments zur Bekämpfung der BSE-Krise ist dafür ein Beispiel.
Wie sollen weitere Mitspracherechte erreicht werden?
Nach meiner Einschätzung könnte es passieren, dass eine Generalklausel verabschiedet wird, in der es heißt: Alle Mehrentscheidungen im Rat werden auch in die Mitentscheidung des Parlaments gelegt, aber wir lassen den Agrarbereich heraus. Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass bei Resolutionen des Parlaments immer ausdrücklich der Agrarbereich erwähnt wurde, und habe entsprechend bei unserer Regierung interveniert. Es kann nun niemand sagen, es wurde nicht drauf geachtet.
Wird die Agrarlobby nicht in Nizza dagegen arbeiten?
Die Lobby sitzt in den Regierungen. Als die fortschrittlichen Elemente der Agenda 2000 vom Tisch gewischt wurden, hat das allen voran das Bundeslandwirtschaftsministerium veranlasst. Deutschland könnte sich anders verhalten, hat es aber bislang nicht getan.
Würde eine Neuorientierung nicht auch erhebliche Konsequenzen für die Landwirtschaft der Beitrittsländer haben?
Da geht die Auseinandersetzung darum, ob den neuen Mitgliedsländern Prämien angeboten werden, die bei uns als Ausgleichsprämie für Getreide und Rindermast gegeben werden. Wir im Europaparlament möchten, dass die Ländern statt dieser Prämien die gleiche Summe in Form von Strukturgeldern erhalten. Die könnten sie für strategische Zielsetzungen zur Entwicklung des ländlichen Raumes einsetzen – statt nur einzelne Bauern mit Schecks zu beglücken. Das heißt zum Beispiel Umschichtung der Gelder für die zweite Säule, die Strukturlinie für den ländlichen Raum der Agenda 2000. Dass das Sinn macht, darüber herrscht durchaus Einigkeit mit den Polen und anderen Beitrittsländern – aber dort gibt es natürlich die Sorge, dass sie ganz leer ausgehen, wenn sie den Anspruch auf die traditionell gezahlten Prämien aufgeben.
Müssten nicht die Ökobauern die Chance nutzen und mehr Politik machen?
So einfach sagen: „Mach mal Bio“, wird der Kompliziertheit der Lage nicht gerecht. Ich bin selbst Biolandwirt, habe seit 1980 einen 50-Hektar-Hof. Die Initiative muss natürlich auch von den Bios kommen, aber die haben mit ihren Betrieben selbst genug zu tun. Sie haben schon gegen den Trend ihre Betriebe nach vorn gebracht. Wenn heute auch für sie die Möglichkeit der Förderung besteht, dann nur, weil diese Betriebe ihren praktischen Beitrag geleistet haben.
Durch sie haben wir in der Katastrophe überhaupt eine Alternative anzubieten. Sie sind praktisch wie politisch der Hoffnungsträger, aber man darf sie auch nicht überfordern. Und es ist auch abhängig vom Verbraucher, der bereit sein muss, die Leistungen zu bezahlen, der sich fragen muss: Fördere ich mit meiner Kaufentscheidung den richtigen Prozess in der Lebensmittelerzeugung?
Die nächste Agrarreform kommt aber erst 2006, bis dahin ist BSE vergessen.
Das ist wie im Fußball: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Damit nicht sofort alles wieder vergessen wird, soll es 2003 einen Zwischenbericht zur letzten Agrarreform geben, der öffentlich diskutiert wird. Diese Zwischenbilanz werden wir diesmal nicht allein der Kommission überlassen, und wir werden auch die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und die Umweltschutzverbände hinzuziehen.
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