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Papa, hast du das gewusst?

In seinem neuen Buch untersucht Wolfgang Kraushaar die 68er als „postmaterialistische Werteelite“ – und ein klein wenig die Verbindung der APO zur Stasi. Dass die Geschichte der antiautoritären Bewegung eine Erfolgstory ist, glaubt man ihm gern

von KOLJA MENSING

Im Jahre 1934 verfasste Max Horkheimer unter dem Pseudonym Heinrich Regius ein Buch mit dem Titel „Dämmerung“. „Die revolutionäre Karriere“, heißt es darin, „führt nicht über Bankette und Ehrentitel, über interessante Forschungen und Professorengehälter, sondern über Elend, Schande, Undankbarkeit, Zuchthaus ins Ungewisse.“ 1967 wurde die Sammlung von Aphorismen als Raubdruck neu aufgelegt. Max Horkheimer bezog damals nicht nur eine Pension als emeritierter Professor, sondern hatte einige Jahre zuvor als Rektor der Frankfurter Universität sogar im Talar Bundeskanzler Adenauer empfangen.

Der Sache tat das keinen Abbruch. „Dämmerung“ wurde von vielen westdeutschen Studenten, die noch am Beginn ihrer eigenen revolutionären Karriere standen, gelesen. Vielleicht ahnten sie ja, dass sie eines Tages selbst an Staatsbanketten teilnehmen oder an einer Universität arbeiten würden – Schande, Undankbarkeit und Zuchthaus jedenfalls nur auf die allerwenigsten von ihnen warteten: Obwohl ein Teil dieser Generation ein ganzes Gesellschaftssystem stürzen wollte, „ist ihre Wertschätzung, die sie heute innerhalb des in seiner Grundstruktur immer noch unverändert fortexistierenden Systems erfährt, erstaunlich positiv“, wundert sich jetzt auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar – in einem der vielen komplizierten Sätze seines Buches „1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur“.

Kraushaar arbeitet seit vielen Jahren am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er hat sich mit der Geschichte der bundesdeutschen Protestbewegungen im Allgemeinen und mit der Studentenbewegung im Besonderen beschäftigt. Nach zwei großen chronologischen Studien legt er jetzt eine Analyse vor.

Sein Vorgehen erinnert ein wenig an die westdeutschen Schulgeschichtsbücher der 70er- und 80er-Jahre. Dort wurde gerne zwischen chronologischen Abläufen und Quellenmaterial auf der einen und historischen und gesellschaftlichen Einordnungen auf der anderen Seite unterschieden – eine säuberliche Trennung, die dann in zähen Unterrichtsgesprächen überwunden werden musste. So ist es dann nicht der lange Marsch durch die Relativsätze erster, zweiter und dritter Ordnung, der die Lektüre von Kraushaars Buch anstrengend macht. Es ist die Weigerung des Autors gegenüber jeder narrativen Handreichung: Der Geschichtslehrer erzählt nicht, er diskutiert.

Kraushaar möchte erst einmal die Ideengeschichte aufräumen und sucht in der amerikanischen Tradition des zivilen Ungehorsams nach den Wurzeln der Studentenbewegung. Er verfolgt den Niedergang der Parole vom „langen Marsch durch die Institutionen“ vom Kampfruf einer globalen Guerilla bis zur ironischen Entschuldigungsformel von Oberstudienräten mit Jusovergangenheit und arbeitet noch einmal die paradoxe Einstellung des „Patrioten“ Rudi Dutschke zur Wiedervereinigung heraus. Alles ordentlich recherchiert, aber letztlich rührt Kraushaar nur noch einmal in der faden Begriffssuppe des diskussionsfreudigen Restmilieus. Immer neue Zitate, Belegstellen und argumentative Pointen werden wohl kaum wirklich zur „Klärung des überaus defizitären Fragenkomplexes“ nach der „Linken im eigenen Land“ führen, oder? Vor allem, solange interessantere Geschichten über die Linke im eigenen Land zu erzählen sind.

Ein spannendes Kapitel in Kraushaars Buch stellt in groben Zügen den bisher kaum erforschten Einfluss von Stasi und DDR-Politbüro auf die westdeutsche Studentenbewegung heraus – mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit ist die heutige Vätergeneration nämlich so weit noch nicht. Bereits zu Beginn der 60er-Jahre fanden konspirative Treffen des DDR-Geheimdienstes mit konkret-Redakteuren statt, und 1966 lag dem Politbüro der SED ein „Maßnahmeplan“ zur Unterstützung des Frankfurter Vietnam-Kongresses vor: Es werde gesichert, dass „qualifizierte Kommunisten“ teilnehmen, und die Genossen schlagen vor, „unmittelbar vor dem Stattfinden des Kongresses Demonstrationen vor US-Konsulaten und Amerika-Häusern durchzuführen“. Später unterhielt sich die „Westabteilung“ des SED-Zentralkomitees mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth über die Gründung einer sozialistischen Partei in der BRD, es gab IMs in der Szene, und das Politbüro hatte eine lange Liste mit „befreundeten Zeitungen und Zeitschriften“ wie den Blättern für deutsche und internationale Politik, an die Geld und gute Ratschläge flossen. Ein Land, zwei Staaten, tausend Verschwörungen: Papa – hast du das gewusst?

Das Kapitel „SED, Stasi und Studentenbewegung“ ist nur 23 Seiten lang. Mehr Platz und Energie wollte Wolfgang Kraushaar auf die dunklen Seiten der antiautoritären Bewegung dann wohl doch nicht verwenden. Der Hauptstrang seines Analyseknäuls besteht nämlich darin, die Geschichte der antiautoritären Bewegung als zivilisatorische Erfolgsstory zu deuten.

Die nachrevolutionäre Karriere von Joschka Fischer oder das „Suggestivbild von der Machterringung der 68er“ interessieren ihn dabei weniger, schon weil Politiker unter den Angehörigen der Protestgeneration zahlenmäßig eher schlecht vertreten sind. Es sind Lehrer und Hochschullehrer, Journalisten und Verleger, Multiplikatoren im Kulturbereich also, die in langen und harten Jahren „Schneisen in die traditionalistische, von den Bedürfnissen nach Sicherheit geprägte Wertelandschaft geschlagen“ haben. Wow! Kraushaar macht daraus eine „postmaterialistische Werteelite“, der es nicht um Macht, sondern um die „Ausprägung ziviler Wertvorstellungen“ geht: zum Beispiel um mehr Mitspracherechte am Arbeitsplatz, um weniger unpersönliche Beziehungen in der Gesellschaft, um die Dominanz von Ideen und die Redefreiheit.

So weit zum gesamtgesellschaftlichen Punktsieg der antiautoritären Bewegungen, den Kraushaar mit allerlei empirischem Datenmaterial und langen Namenslisten in den Fußnoten belegt. Wird schon stimmen. Seltsam allerdings, dass die Generation, die an den von Kraushaars Multiplikatoren dominierten Schulen und Hochschulen ausgebildet wurde, die ihre Zeitungen und ihre Bücher gelesen hat, eine ganz andere Vorstellung von Postmaterialismus und zivilen Wertvorstellungen hat.

Es ist eine Generation, deren eigene Werteelite nicht mehr über Geld, sondern über venture capital redet. Die statt Mitspracherechten am Arbeitsplatz auf Unternehmensbeteiligung in Form von Aktienpaketen besteht oder sich sowieso gleich selbstständig macht und außerdem längst erkannt hat, dass man Ideen nicht nur ernst nehmen, sondern auch verkaufen kann.

Dieser Generation ist die Frage nach der „Linken im eigenen Land“ möglicherweise gar nicht so wichtig. Trotzdem stehen viele ihrer Angehörigen wie damals, zuzeiten Max Horkheimers oder Joschka Fischers, am Anfang geradezu revolutionärer Karrieren, die ins Ungewisse führen. Und man könnte sich sogar vorstellen, dass über sie einmal aufregendere Bücher geschrieben werden als über die so genannten Achtundsechziger.

Wolfgang Kraushaar: „1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur“. Hamburger Edition, Hamburg 2000, 369 Seiten, 48 DM

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