: An Rache ist nichts verächtlich
von JAN FEDDERSEN
Wie sehr Jan Philipp Reemtsma diesen Augenblick ersehnt hat, ist seit fast vier Jahren nachzulesen: „Ich würde die Täter gerne vor Gericht sehen. Ich möchte denen gerne ins Auge sehen.“ Im Hamburger Landgericht wird er von heute an jenem Mann gegenübersitzen, der die Idee hatte und sie realisierte, ihn, den Millionär, aus seinem Haus im Hamburger Stadtteil Blankenese zu entführen, einen Monat lang gefangen zu halten und Reemtsmas Angehörige in Todesangst zu versetzen. Thomas Drach, mehrfach vorbestraft, ist verantwortlich dafür, dass Reemtsma nach seiner Freilassung sagte: „Ein Stück Welt ist kaputtgegangen.“
Drach und seine Komplizen hatten die Entführung akribisch vorbereitet. Aufmerksam wurden sie auf Reemtsma vermutlich während der Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung 1995. Damals tauchten erstmals Fotos von Reemtsma auf. Der Hamburger wollte nie Teil der hanseatischen Kulturschickeria oder als wohlhabender Erbe Objekt der Klatschspalten werden. Als die Ausstellung politisch über die linksliberale Wissenschaftsszene hinaus zu wirken begann, war Reemtsma plötzlich ein Teil der öffentlichen Debatte geworden. Seine Angst vor Anschlägen, vor der Zerstörung seiner Privatheit hatte er ironischerweise kurz vor seiner Entführung für absurd, zumindest für unberechtigt erklärt.
Reemtsma war für seine Kidnapper kein politisches Objekt. Ihnen ging es ausschließlich ums Geld. In seinem Buch „Im Keller“, in dem Reemtsma akribisch die Tage seiner Gefangenschaft in einem Haus nahe Bremen schildert, charakterisiert er Thomas Drach – dessen Namen er damals noch nicht kennt – wie später auch in Interviews als „dissoziierte Person“. Er meint damit einen Menschen, der frei von ethischen und moralischen Einbindungen ausschließlich im eigenen Interesse handelt, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten anderer.
In der Person Drachs wird diese Skizze kenntlich. Der kleine, gedrungene Mann mit dem vorzüglichen Englisch handelte vollständig ideologiefrei. Anders als beispielsweise die Entführer Hanns Martin Schleyers oder Aldo Moros in den Siebzigerjahren hatte Drach nie ein anderes Motiv für seine Tat zu erkennen gegeben als jenes, Reemtsma gegen eine Menge Geld einzutauschen. Das Leid, das er mit der Drohung, Reemtsma umzubringen, sofern ihm nicht 30 Millionen Mark Lösegeld gezahlt würden, den Angehörigen seines Tauschobjekts bereitet hat, ist ihm nach allem, was bislang bekannt ist, gleichgültig. Ein Typus, der die Zehn Gebote nicht begreifen kann oder will und sie trotzdem auswendig lernt, weil er sonst nicht konfirmiert wird, was wiederum zur Folge hätte, keine Konfirmationsgeschenke zu bekommen.
Die zivilisationslosen Regeln solcher Gewaltverhältnisse zu untersuchen, gehört ironischerweise zur Programmatik von Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung. Dort werden auch menschliche Wünsche nach Rache und Vergeltung erörtert. Reemtsma weiß inzwischen aus persönlicher Erfahrung, wovon die Rede ist. In seinem Entführungstagebuch „Im Keller“ heißt es weiter: „Und wenn man mir morgen seinen Kopf brächte, ich hätte nichts davon. Und wenn ich straflos tun könnte, was ich wollte, es nützte mir nichts, meinerseits die Zivilisation einzureißen.“ Reemtsma hat klar zu erkennen gegeben, dass seine private Welt nie mehr ohne einen Kordon von Leibwächtern und anderen Sicherungssystemen auskommen wird. Und doch wird ihm eingestandenermaßen dieser Schutz nicht zurückgeben können, was er vorher fühlte: eine Unverwundbarkeit dem geplant Bösen gegenüber.
Thomas Drachs Anwälte haben mitgeteilt, dass ihr Mandant sich schuldig bekennen werde. Neun Verhandlungstage sind anberaumt, mit einem Urteil wird bis Anfang Februar gerechnet. Nicht nur von der womöglich taktisch inspirierten Reue des Angeklagten, der bis zu seiner Festnahme in Argentinien ein Leben mit Mercedes Benz, Golfübungen, Hotelsuiten der exzellenten Art, also eine Existenz im Stil geldsatter New-Economy-Aufsteiger führte, wird abhängen, wie hoch das Strafmaß ausfallen wird. Er sitzt zwar in Untersuchungshaft, aber vom Lösegeld fehlen noch 29 der 30 Millionen. Drach spekuliert wohl darauf, dass er nach 15 Jahren Knast wieder freikommt und dann als Mittfünfziger mit dem Rest der Beute ein auskömmliches Leben haben kann. Selbst von Reemtsma verpflichtete Privatsicherheitsdienste haben weder in Bulgarien noch im belgischen Grenzgebiet noch in Argentinien, wo Drach 1998 verhaftet worden war, das Lösegeld ausfindig machen können. Auch die Drohung, dass mit der Einführung des Euro Anfang 2002 das Gros des Geldes wertlos würde, fruchtete nicht. Die Fahnder gehen davon aus, dass Thomas Drach es längst gewaschen und dann in Immobilien angelegt hat.
Reemtsma hat nichts unversucht gelassen, dieses Geld zurückzuerhalten. „Was könnte man damit alles bewirken“, sagte er ganz praktisch all jenen, die eigentlich hören wollen, dass das Leben an sich schon jeden Mammon aufwöge. Insofern wird Drach also auch in Freiheit gejagt werden. Die Polizei rechnet damit, dass schon deshalb der Angeklagte in seiner Kriminellenszene zur Persona non grata wird: Wie auch Piotr Laskowski, der Komplize, der sich schließlich selbst stellte, wird Drach immer einen Schwarm Fahnder hinter sich wissen – und das ist für die diskrete Abwicklung der Geschäfte seiner Freunde ganz und gar abträglich.
Reemtsma hat in „Im Keller“ seinem Wunsch nach Vergeltung beklemmend kühl Ausdruck gegeben: „Wem etwas angetan worden ist, der will sich rächen, und daran ist nichts verächtlich. Manchmal ist Rache heilsam, manchmal nicht. Verbrechen bestraft man. Einmal der Abschreckung wegen. Zweitens um die Verbotsnorm aufrechtzuerhalten.“ Reemtsma sagt über die Wirkung auf sich, der Tage in fast mörderischer Gefangenschaft erlitt: „Die Strafe für den Täter ist im Grunde nichts anders, als es viele freundliche Briefe von Menschen sind, die sagen: ‚Welcome back.‘ “
Was Reemtsma besonders zermürbt hat, war die Leidenschaftslosigkeit seiner Entführer. Drach rief ihm sogar nach seiner Freilassung fast kumpelhaft hinterher: „You will enjoy your life ten times as much.“ Reemtsma, der im Buch selbst an wenigen Stellen fast verschämt zugibt, wie er mit den Entführern – durch Bemerkungen, kleine Gespräche – kooperierte und kommunizierte, war der Hass das einzige Mittel, um mit dieser Pein fertig zu werden. Den Satz, den Drach ohne deutschen Akzent äußerte, um nicht als Deutscher erkannt zu werden, empfand Reemtsma als „Rohheit“. Nun das Leben zehn Mal mehr genießen können: Dafür wünschte er dem Englishman, „dass er im Gefängnis verrotten möge. Das hat er drei Menschen angetan, und dafür werde ich ihn hassen, solange ich Gefühle habe.“
Der Prozess ist nichts als der Endpunkt eines Verfahrens gegen einen Verbrecher. Er wird nach den Regeln des Rechtsstaates durchgeführt. Und er wird mit einem Urteil enden. Für die Öffentlichkeit ginge das Verfahren vielleicht noch weiter – wenn die klassische Diskussion um Resozialisierung von Tätern erweitert würde zu Gunsten einer Debatte um die Schäden an den Opfern, die durch keine Haftstrafe getilgt werden. Der Fall des entführten Jan Philipp Reemtsma wird vom Opfer selbst als Chance begriffen, seine Welt wieder ins Lot zu bringen. Im Gegensatz zu Reemtsma haben andere Opfer von Gewaltverbrechen nur wenig öffentliche Resonanz, wenn sie Vergeltung wünschen.
Es ist an Thomas Drach, sich nicht nur zu seiner Schuld zu bekennen, sondern sich auch glaubhaft zu entschuldigen. Es spricht nicht viel dafür, dass dieser Täter überhaupt weiß, was da sein Opfer von ihm verlangt.
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