: Einmal Müllmann sein...
„Die Leute wollen es nicht hören, sie wollen es einfach nicht hören.“ Was ein behinderter Junge mit dem Müllproblem der Stadt zu tun hat. Vor allem an Weihnachten
von CORNELIA KURTH
Ach, könnte er doch Müllmann werden, ein echter Müllmann! Noch einmal diese leuchtend orangene Weste tragen und sich jauchzend vor Glück an den Haltegriff des Müllwagens hängen, der durch die engen Gassen des alten Städtchens rumpelt. Überschwenglich winken, wenn er und sein Trupp an einem Bekannten vorbeifahren: „Sieh doch, ich bin’s, sieh her, ich bin es wirklich!“
Mit jeder Hand kann er zwei pralle Altpapiersäcke gleichzeitig hochheben und sie an den Kollegen weiterreichen, ja, Kollegen! Der wirft sie mit Schwung in den geöffneten Schlund des Wagens und irgendwann würde er das auch tun dürfen, weg mit dem ganzen Müll, rein in den Müllfresser und raus aus der Stadt, damit Ordnung herrschen kann und alles gut ist.
„Ja, der Junge, mein Martin“, sagt die dicke Mutter in einer Mischung aus Stolz und Besorgnis und wischt sich ihr strähniges angegrautes Haar aus dem Gesicht. „Hätte er nicht als Kind das Rattengift gegessen, dann wär bestimmt was Besonderes aus ihm geworden.“ Zumindest wäre er dann jetzt ein besonders hübscher Neunzehnjähriger, was er im Grunde auch ist: Schultern breit wie ein Schwimmer, Hüften schmal wie ein Windhund, dichte schwarze Haare, rote Lippen, leuchtend blaue Augen, er könnte wirklich schön sein. Doch sein wohlgeformter Körper steht immer unter einer verdrehten Anspannung, die alle mögliche Harmonie entschieden stört. Keinen Moment kann Martin auf der Stelle stehen, ohne Arme, Beine, Hände und Hals in seltsam abgerissener Bewegung zu halten, eigentlich gar nicht so auffällig, und doch fällt es eben auf, fällt genauso auf wie der unruhige, sich plötzlich aufhellende und sich ebenso plötzlich verfinsternde Blick seiner tief blauen Augen. „Bald ist Weihnachten!“, ruft er über die Straße. „Du musst in der Zeitung darüber schreiben. Die Leute sollen nicht wieder so viel Müll machen! Schreib das!“
Damals, als er das Rattengift gegessen hatte, da war er vier Jahre alt gewesen, das dritte Kind von fünf Geschwistern, die zusammen mit dem arbeitslosen Vater und der von einem ersten behinderten Kind überlasteten Mutter in einer abrissreifen Sozialwohnung lebten. „Er war nicht von Geburt so, wie die Leute immer denken“, sagt die Mutter und wird ganz rot von dem alten Zorn über die alte Geschichte. „Die Stadt hat Schuld, die Stadt hat mein Kind auf dem Gewissen!“
Weil die Familie nämlich schon längst einen Antrag auf Wohnungswechsel gestellt hatte und da wurde viel zu lange nichts draus und so hat man, weil die Ratten überhand nahmen im alten Gemäuer, irgendjemand, ist egal wer, hat Rattengift ausgelegt und ein Rest blieb auf einem Tisch liegen, „so Kügelchen, schwarze, die sehen aus wie Lakritzbonbons“, die also steckte sich der kleine Martin in den Mund und wurde davon ganz taumelig und taumelte aus der Wohnung heraus auf die Straße, genau vor ein Auto, Kopfverletzung, Hirntrauma: Die Stadt hatte sich ihren mahnenden Narren geschaffen.
An manchen stillen Morgen hört man unvermutet einen lauten, herzhaften Gesang: „O rote Rosen, rote Rosen!“ Es ist Martin, der mit schnellen abgehackten Schritten und schlenkernden Armen, den Kopf hoch erhoben, über den Stadtwall gegangen kommt, dort wo die schönen bürgerlichen Häuser stehen. Er singt aus vollem Herzen und vergisst doch seine Aufgabe nicht: „Haben auch alle den richtigen Müll rausgestellt? Die Tüten für den Plastikmüll ordentlich zugebunden, sodass die Katzen nicht rankommen? Die Tonnen nicht zu weit auf die Straße geschoben?“ Das alles kontrolliert er, während er scheinbar nur singt und ja auch so schnell geht, dass niemand einen Spion in ihm vermuten würde.
Früher hat er manchmal an den Türen geklingelt und einzelne Hausbewohner erregt, aber sehr höflich auf entdeckte Missstände aufmerksam gemacht. Manches böse Wort musste er dabei einstecken, so böse oft, dass selbst er merkte: „Die Leute wollen es nicht hören, sie wollen es einfach nicht hören!“
So sammelt er also ganz unauffällig seine Informationen und einmal im Monat geht er in die Redaktion der Heimatzeitung: „Bald ist Weihnachten, das wisst ihr ja“, sagt er etwa und sucht mit seinem unruhigen Blick einen Redakteur, der seinen Blick erwidert. „Ihr müsst über das Müllproblem schreiben, das wollte ich nur sagen. Ich kann euch da gute Tipps geben und am besten, ihr macht wieder ein Foto von mir.“ Wenn er Glück hat, dann ist der eine nette Redakteur da, der hatte ihn fotografiert, als die Lebenshilfe ermöglichte, dass er eine Woche lang die orangene Weste tragen und mitfahren durfte, hinten am Müllwagen hängend und für Ordnung sorgen, mit der ganzen Autorität eines echten Müllmannes. Der nickt: „Ja, Martin, das machen wir, wenn es sich ergibt.“
Martin weiß, dass die von der Zeitung gute Leute sind. Ohne die Leute von der Zeitung hätten ihn die Menschen der Stadt klein und kaputt gemacht. Das hat ihm seine Mutter genau erklärt. Ohne die Artikel in der Zeitung hätten sie wohl alle gedacht, er sei besoffen gewesen, als er zerschunden auf den Treppen des Paulanerkellers lag, lange lag er da, bevor ein Mann ihn hochhob und sagte: „Junge, was hast du nur gesoffen?“
Es waren drei Mädchen gewesen. Die gingen vor ihm her und hinterließen eine Spur von Müll: Zigarettenkippen und Schokoladenpapier. Als eins der drei Mädchen ihre gerade ausgetrunkene Bierdose in den Rinnstein fallen ließ, da schlug Martin alle Warnungen seiner Mutter in den Wind, hob die Dose auf und rief: „Hier, ihr!“
„Wie oft hab ich ihm gesagt, er soll nicht die Leute auf der Straße ansprechen. Martin, tu es nicht mehr, du hast doch nichts als Ärger davon, Junge, merkst du denn nicht, wie sie dich beschimpfen? Es endet noch mal schlimm, das hab ich ihm immer gesagt.“
Es war erst gegen halb sieben am Abend. Der Paulanerkeller hatte noch nicht geöffnet. Die Mädchen schubsten ihn zurück: „Halt’s Maul, ey!“
„Aber ihr, ihr dürft den Müll nicht einfach auf die Straße schmeißen. Das ist strafbar. Ich kann das melden. Ihr müsst den Müll in den Mülleimer schmeißen.“
„Halt’s Maul!“ Und sie schubsten ihn wieder und schlugen ihm eins „aufs Maul“ und aufs Auge und stießen ihn mit einem Fußtritt zum Paulanerkeller runter, wo er blutend liegen blieb und nicht wieder aufstehen konnte.
Die Mutter machte eine Anzeige, und es stand in der Zeitung, erst noch mit: „Die Mädchen sollen angeblich ...“ und „Der Junge will sich nicht gewehrt ...“, aber dann kam im Prozess heraus, dass alles so stimmte, wie Martin es stammelnd erzählt hatte. Die Mädchen wurden bestraft und der nette Redakteur schrieb: Eigentlich ist Martin ein Held!
Das ist aber schon fast zwei Jahre her.
Ach, könnte er doch Müllmann werden, ein echter Müllmann. Noch einmal diese leuchtend orangene Weste tragen und sich jauchzend vor Glück an den Haltegriff des Müllwagens hängen: „Seht doch, ich bin’s, seht her, ich bin es wirklich!“
CORNELIA KURTH, 40, lebt als freie Journalistin in Rinteln. Die Weihnachtsfeiertage wird sie inmitten von Umzugskartons verbringen, nur halb ausgepackt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen