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Das audiovisuelle Gedächtnis der DDR

Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) ist von Berlin-Adlershof nach Potsdam-Babelsberg umgezogen. Dort bekommen nun auch private Nutzer Einblick in die übrig gebliebenen Bestände des DDR-Fernsehens: 8 Kilometer Akten, 400.000 Tonträger und 100.000 TV-Mitschnitte lagern in dem Neubau

West-Aufzeichnungen stopfen die Lücken im Ost-Archiv und umgekehrt

von SILVIA LANGE

Der Schauplatz wird kontrastreich inszeniert: Kaum hat man das Torhäuschen zur ehemaligen „Traumfabrik“ Babelsberg im Südwesten von Berlin passiert und steht auf Kopfsteinpflaster inmitten des historischen Gebäudeensembles der Filmstudios aus den 20er-Jahren, taucht dahinter eine moderne Glasfassade auf.

Verkehrte Welt: Während der ORB teilweise aus den historischen Gebäuden sein aktuelles Programm sendet, ist der Neubau für die Geschichte bestimmt. Das Deutsche Rundfunkarchiv ist mit seinen DDR-Beständen aus der Adlershofer „MediaCity“ im Berliner Südosten nach Potsdam-Babelsberg gezogen. Wer frühe Ost-Sandmännchen und das legendäre Sparwasser-Tor sehen oder in alte Bänder des DDR-Radios reinhören will, wird hier fündig. Ab sofort ist das Archiv auch wieder vollständig für private Nutzer offen.

In den Glasvitrinen am Eingang lassen alte Radioempfangsgeräte schon die Klänge aus den 50er-Jahren erahnen. Neben diesen funktionellen Möbelstücken stehen die typischen „Volksempfänger“ und frühe Detektoren aus den Anfängen des Rundfunks. Auch das Original-Mikrofon der Berliner „Funkstunde“ aus den 30er-Jahren wurde ausgegraben.

Doch die eigentlichen Bestände des Rundfunkarchivs sind zunächst nicht zu sehen: Acht Kilometer Archiv-Akten, über 400.000 Tonträger nebst Einzelgeräuscharchiv und 100.000 Fernsehsendungen lagern hinter einer riesigen weißen Wand. Sie trennt den mit Glas umgebenen Besucherbereich von den Archivräumen, die von einer roten Klinkerfassade mit kleinen Lichtschlitzen umschlossen werden. Für knapp 23 Millionen Mark haben die Berliner Architekten Busmann & Haberer ein klar strukturiertes und benutzerfreundliches Archiv gebaut.

Die zentrale Informationsstelle schickt die Suchenden entweder zum Zettelmagazin oder zu den acht öffentlichen Computerplätzen. Von dort kann zu bestimmten Themen selbst recherchiert werden. So werden ab Mitte Februar sämtliche Manuskripte der DDR-Propagandasendung „Schwarzer Kanal“ einsehbar. Die frühen Protokolle der täglichen Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ sollen auch bald digitalisiert werden.

Zugang zu diesen Daten gibt es allerdings nur von den Rechnern vor Ort im Archiv – und das soll auch so bleiben. Online gibt es Appetithäppchen in Form von „Dokumenten des Monats“ zum Reinhören: Ausschnitte aus der ersten Unterwasser-Reportage von 1948 oder aus der ersten Pressekonferenz des Zentralen Runden Tisches von 1989.

Vom Rechner aus wandert der Blick über die Sichtungsräume für Film, Video, Tonband und Mikrofiches bis unter das Glasdach über dem dritten Stock. Der gesamte Besucherbereich wirkt luftig und offen. Quer durch den Raum führt eine große Treppe aus hellem Holz und leichtem Metall. Sie lädt förmlich in den ersten Stock ein, in die Handbibliothek mit allen wichtigen Büchern zum DDR-Rundfunk inklusive der Marx-Engels-Gesamtausgabe.

„Bei den privaten Nutzern bekommt das audiovisuelle Gedächtnis der DDR oft eine einzelbiografische Bedeutung“, erzählt Archivleiter Peter-Paul Schneider. Wenn ihm zum Beispiel eine ältere Frau schreibt, dass sie 1965 mit ihrem Mann im Harz gewandert sei, während ein Team des Deutschen Fernsehfunks (DFF) dort gedreht habe – in der Hoffnung, dass diese Aufzeichnung noch existiert, denn das wären die einzigen bewegten Bilder ihres verstorbenen Mannes. Wie lange es dauert, bis solche besonderen Anfragen bearbeitet sind, hängt davon ab, wie intensiv die anderen drei Zielgruppen nachfragen.

Neben wissenschaftlich-kulturellen Einrichtungen und kommerziellen Firmen profitieren vor allem die ARD-Anstalten selbst von dem Archiv, das sie nach der Wende in Auftrag gaben. Das (West-) Deutsche Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main, das von der ARD finanziert wird und auch die Bestände bis 1945 verwaltet, sollte das Programmvermögen des DDR-Rundfunks sichten und zugänglich machen. So werden regelmäßig alte Folgen des „Polizeiruf 110“ und Zusammenschnitte aus DDR-Kultserien wie „Ein Kessel Buntes“ in so genannten Gernsehabenden der ARD-Sender verbraten. Und TV-Zeitschriften bitten um passende Filmfotos.

Dabei hat das Rundfunkarchiv auch vom Kalten Krieg profitiert: Als Ende 1991 beim DFF die Lichter ausgingen, waren nur vierzig Folgen des „Schwarzen Kanals“ aufgezeichnet. Doch das Bundespresseamt hatte jahrelang alle politischen Sendungen der DDR mitgeschnitten, sodass die Archivlücken geschlossen werden konnten. Umgekehrt konnten die ARD-Anstalten durch die Aufzeichnungen in Ost-Berlin ihre Bestände von „Tagesschau“ und den politischen Magazinen vervollständigen. Neben den Mitschnitten existieren auch minutiöse Protokolle der West-Sendungen – versehen mit Empfehlungen für deren Verwendung in DFF-Sendungen wie dem „Schwarzen Kanal“.

Wer sich in Babelsberg auf die Suche nach dem „Giftschrank“ des DDR-Fernsehens macht, wird allerdings enttäuscht werden. Nur zwei Produktionen wurden nicht ausgestrahlt, weil sie nicht genehm waren: „Ursula“ zeigte zu viele nackte Menschen, „Geschlossene Gesellschaft“ war zu gesellschaftskritisch.

Die Vorgaben, mit denen das Programm von politischer Seite „begleitet“ wurde, waren allen Beteiligten klar. So musste jede Folge des „Polizeiruf 110“ dem DDR-Innenministerium vorgelegt werden. Im Schriftgutarchiv sind die Zensurvermerke in den originalen Drehbüchern nachzulesen: Ein Fahnder durfte seinen Chef nicht mit „Hey, Boss“ ansprechen, sondern hatte „Genosse Mayor“ zu sagen.

Ein Stockwerk über diesen Akten lagern bei 17 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit die magnetischen Aufzeichnungen (MAZ) der Fernsehbilder. Auf die digitalen Träger werden nach und nach alte Videoformate überspielt. „Im Gegensatz zu einem Literaturarchiv kommt es uns nicht auf den Träger an, sondern auf den Inhalt“, meint Schneider. Die Qualität der alten Zwei-Zoll-Videos nimmt naturgemäß mit dem Alter ab. Ersatzteile für die Abspielgeräte gibt es heute kaum noch, sodass jedes defekte Gerät schon als „wandelndes Ersatzteillager“ fungiert. Daher werden die alten Videos nach der Überspielung entsorgt.

Die Magnetbänder der TV-Sendungen lagern bei 17 Grad, alte Filme bei 4 Grad Celsius

Anders ist das Verfahren beim hochwertigeren Film: Er wird zwar auch überspielt, aber dennoch aufgehoben, bis sich die Überspieltechnik und das Speichermedium verbessert hat. Schneider hofft auf die technische Entwicklung der nächsten Jahre: „Als Medienarchiv sind wir der einzige Archivtyp, der sich miniaturisieren kann.“ Doch bis es so weit ist, werden die 35- und 16-Millimeter-Filme hinter schweren Türen bei minus 4 Grad im Keller eingefroren. Trotzdem können sie an den Filmsichttischen angeguckt werden – vorher müssen sie bloß im „Auftauschrank“ bei geregelter Luftfeuchtigkeit der richtigen Raumtemperatur angepasst werden. Damit das Filmmaterial nicht das Abspielgerät verschmiert, wird es außerdem regelmäßig in die unförmige „Filmwaschmaschine“ gesteckt.

Die modernen Archivräume stehen in keinem Vergleich zum bisherigen Domizil, den baufälligen, mit Material voll gestopften Räumen im ehemaligen DDR-Film- und Schneidehaus in der MediaCity in Berlin-Adlershof. Obwohl zumindest die Fernsehdokumente dort am historischen Ort des DDR-Fernsehens standen, weint Schneider den „Schlafmützen in Adlershof“ keine Träne nach: „Wir sind so froh, hier in der boomenden Medienstadt zu sein, direkt neben dem produzierenden Sender ORB, dem Studio Babelsberg und der Konrad-Wolf-Hochschule für Film und Fernsehen.“ In diesem Umfeld lassen sich schnell fruchtbare Kooperationen vereinbaren und Synergieeffekte nutzen.

Dass die Rundfunk-Zeugnisse aus der DDR-Vergangenheit nun beim ORB in den neuen Ländern bleiben, ist eigentlich nur der fehlenden Weitsicht der Führungsspitze des Sender Freies Berlin (SFB) zu verdanken. Ursprünglich sollte nach ARD-Plänen der SFB das traditionsreiche Gelände in Adlershof kaufen und sanieren. Dass es nicht dazu kam, ist historisch eigentlich nur folgerichtig: Schon in den Zwanzigerjahren standen Adlershof und das dazugehörige Johannisthal immer im Schatten der bekannten Filmstadt Babelsberg – obwohl in Johannisthal in den zwanziger Jahren auch Filme wie „Nosferatu“ oder „Das Testament des Doktor Mabuse“ gedreht wurden. Als die Ost-Filmgesellschaft Defa nach dem Krieg ihre Spielfilme in Babelsberg drehte, wurde das Gelände zum bloßen Ausweichquartier für einige Filmproduktionen. Die Filmateliers wurden 1962 vom DDR-Fernsehen übernommen, das seit 1952 direkt nebenan aus dem Adlershofer Fernsehzentrum sendete.

Trotz dieser Vorgeschichte zeigten die West-Berliner Entscheidungsträger kaum Interesse an dem Kauf – es wird gemunkelt, dass ihnen Adlershof „zu weit im Osten“ lag. So dienten die ehemaligen DDR-Film- und Schneidehäuser, in denen viele gerne das „Berliner Hollywood“ sähen, nur als Provisorium für das Rundfunkarchiv. Nach dessen Auszug warten die Gebäude auf eine ungewisse Sanierung oder die Abrissbirne. Dagegen scheint Babelsberg zu boomen und versucht, seinem Mythos als berühmter Film- und neuer Medienstadt gerecht zu werden. Den Wünschen der Regisseure zu Beginn des letzten Jahrhunderts entspricht das Gelände heute noch allemal: „Nicht weit von Berlin, aber verkehrsgünstig“, mit „reichlich Sonnenlicht“ und der „Möglichkeit zur Aufnahme von Landschaftsbildern“.

Zwar plant zumindest der französische Mischkonzern Vivendi für sein 1998 erworbenes Studio Babelsberg in den kommenden Jahren vor allem Sparmaßnahmen und Personalabbau. Das trübt jedoch die Baufreudigkeit der Nachbarn nicht im geringsten: Im vergangenen Herbst weihte die Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf ihren futuristisch anmutenden Neubau ein. Und auch für den ORB war das Rundfunkarchiv erst der Auftakt: Noch in diesem Jahr soll das neue Radiohaus für die vier Hörfunkwellen fertig gestellt und bezogen werden, weiter in Planung ist ein neues Fernsehhaus.

Weitere Informationen und „Radio-Dokumente des Monats“: www.dra.de

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