Im Schutz der Anonymität

Sie mordeten als Zehnjährige ein Kleinkind. Bald haben sie die Strafe verbüßt. Sie bekommen eine vollständig neue Identität

von RALF SOTSCHECK

In wenigen Monaten werden sie freigelassen, doch niemand soll es merken. Robert Thompson und Jon Venables, die 1993 als Zehnjährige den zwei Jahre alten James Bulger aus einem Liverpooler Einkaufszentrum entführt und ermordet hatten, ist von der höchsten britischen Familienrichterin, Dame Elizabeth Butler-Sloss, vollständige Anonymität zugesichert worden. Sie sind die jüngsten verurteilten Mörder in Großbritannien seit 250 Jahren. Großbritannien hat eine der niedrigsten Altersgrenzen für Strafmündigkeit in Europa: Sie liegt in England und Wales bei zehn, in Schottland sogar bei nur acht Jahren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte den Prozess als Verstoß gegen die Menschenrechte bezeichnet.

Die inzwischen Achtzehnjährigen erhalten neue Geburtsurkunden, Sozialversicherungsnummern, Pässe und Schulzeugnisse. Lediglich ihre Familien, die Bewährungshelfer und ausgewählte Polizeibeamte werden über ihre wahre Identität Bescheid wissen. Sollten sie heiraten, sollen Thompson und Venables nicht einmal mit ihren Ehepartnern über ihre Vergangenheit sprechen. Die Medien dürfen weder ihre neuen Namen und Adressen abdrucken, noch irgendetwas über ihr Aussehen oder ihren Dialekt schreiben. Selbst Berichte über ihre acht Jahre in geschlossenen Heimen und ihre Vorbereitung auf die Freiheit sind für zwölf Monate tabu. Bekannt ist nur, dass beide ihr Abitur bestanden haben. Thompson habe sich auf Modedesign spezialisiert, Venables wolle Journalist werden, heißt es.

Es ist das erste Mal, dass erwachsenen Straftätern unbegrenzte Anonymität zugesichert wird, um sie zu schützen. Im Falle Mary Bells, die als Zwölfjährige 1968 zwei Kinder im Alter von drei und vier Jahren getötet hatte, gewährten ihr die Gerichte Anonymität, um ihre minderjährige Tochter zu schützen. Das Urteil von vorgestern könnte es anderen Kindesmördern – wie der Moormörderin Myra Hindley, in Britannien eine ähnliche Hassfigur wie Thompson und Venables – oder pädophilen Straftätern ermöglichen, im Falle ihrer Freilassung ebenfalls Anonymität zu verlangen.

Richterin Butler-Sloss zitierte in ihrer Urteilsbegründung eine Reihe von Zeitungsartikeln und anonymen Drohbriefen sowie eine Erklärung von James Bulgers Vater Ralph, der geschworen hat, er werde die Mörder seines Sohnes „zur Strecke bringen“, wenn sie freigelassen werden. „Das hat mich davon überzeugt, dass diese jungen Männer einzigartig berüchtigt sind und Gefahr laufen, von der Öffentlichkeit und von Verwandten oder Freunden des ermordeten Kindes angegriffen zu werden“, sagte Butler-Sloss. Sie gestattete vier Zeitungsverlagen jedoch, gegen das Urteil in die Berufung zu gehen.

Der Fall der beiden Kinder, die zu Kindesmördern wurden, hatte weltweit Aufsehen erregt. Am 12. Februar 1993 schwänzten Thompson und Venables gemeinsam die Schule. Sie gingen ins Einkaufszentrum in Bootle, einem Stadtteil im Norden Liverpools. Sicherheitskameras haben in Bruchstücken festgehalten, was geschah: Während seine Mutter im Fleischerladen anstand, verließ der knapp dreijährige James Bulger das Geschäft. Kurz darauf wurde er von den zwei Jungen angesprochen und an der Hand zum Ausgang geführt.

Thompson und Venables führten den kleinen James zum Leeds-Liverpool-Kanal, wo ihn Thompson zum ersten Mal zu Boden schleuderte und ihm eine Kopfverletzung beibrachte. Danach brachten sie ihn in die Nähe eines Eisenbahndamms im Nachbarstadtteil Walton, wo sie wohnten. Dort bewarfen sie James Bulger mit Ziegelsteinen, schlugen ihn mit einer schweren Eisenstange und traten ihm wiederholt ins Gesicht. Insgesamt fügten sie ihm 42 Verletzungen zu. Als sie ihn auf die Schienen legten, war James vermutlich bereits tot. Ein Güterzug zerfetzte die Leiche am nächsten Morgen.

„Die Anwälte wollen, dass wir die abscheuliche Art vergessen, auf die sie James entführten und ermordeten, aber die Menschen werden nie vergessen, was sie getan haben“, sagte James Bulgers Mutter Denise Fergus nach dem Urteil. Es gilt nur für England und Wales, nicht jedoch für schottische und ausländische Medien sowie das Internet. Butler-Sloss machte deutlich, dass englische und walisische Zeitungen mit harter Bestrafung rechnen müssen, sollten sie das Urteil durch Zitieren anderer Medien unterlaufen.

Denise Fergus ist dennoch davon überzeugt, dass sich Thompson und Venables nicht verstecken können: „Man wird sie erkennen und entlarven, welchen Namen sie auch annehmen und wohin sie auch gehen. Sie werden ständig über die Schulter schauen müssen. Selbst wenn sie auf einem Berggipfel am Ende der Welt leben würden, kämen sie nicht zur Ruhe. Es tröstet mich etwas, dass sie immer gejagt werden und niemals in Frieden leben können.“