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Nicht gleich zuschlagen

Notwehr ist erlaubt, unterlassene Hilfeleistung wird bestraft. Die Grenzen zwischen zu viel und zu wenig sind oft nur schwer auszumachen. Das Opfer kann plötzlich selbst zum Täter werden

Julia K. wohnt in einer eher bürgerlichen Ecke Berlins. Kommt sie abends spät und allein nach Hause, benutzt sie ein Taxi. Sicherheitshalber. Angela P. fährt mit der S-Bahn und geht die letzten paar hundert Meter bis zur Wohnung zu Fuß. Passiert ist beiden noch nie etwas, obwohl es in der Wohngegend von Angela P. von Kneipen nur so wimmelt. Oder vielleicht gerade deswegen: Sie fühlt sich sicher, weil um sie herum stets Menschen auf der Straße sind, mit deren Hilfe sie bei etwaigen Übergriffen rechnet.

Nun kann man zwar erwiesenermaßen nicht immer und bei jedem potenziellen Helfer hinreichend Zivilcourage erwarten und darauf hoffen, er werde im Notfall eingreifen. Doch Zeugen von Straf- und Gewalttaten sind fernab ihrer inneren Stärke auch von Gesetzes wegen verpflichtet, dem Opfer zu helfen. Andernfalls können sie bestraft werden: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“, lautet der Paragraf 323 c des Strafgesetzbuches, der allerdings nach Expertenmeinung von Richtern nur selten angewendet wird. Gerade bei Delikten von besonderer Aggressivität werden sich Zeugen auf die „eigene Gefährdung“ berufen – und damit auf die Unzumutbarkeit einer Hilfeleistung.

Also: Keine Frau muss es zwingend mit drei schwergewichtigen Schlägern aufnehmen, um eine andere zu schützen. Klüger und vor allem Erfolg versprechender kann es sein, Passanten und Nachbarn zu alarmieren oder auch in das nächste Restaurant, die Kneipe, zu stürmen, um kräftige Unterstützung für das Opfer zu organisieren. Wer allerdings einen verwahrlosten und betrunkenen, aber hilfsbedürftigen Menschen im Notfall nicht in seinem Wagen ins nächste Krankenhaus transportieren will, kann sich mit Unzumutbarkeit nicht mehr herausreden.

Muss aber jeder eingreifen, um ein Verbrechen abzuwenden? Nur dann, wenn er sich selbst der Situation gewachsen fühlt. Wer zum Beispiel im Rollstuhl sitzt, kann nur schwer unmittelbar Hilfe leisten und sich folglich auch nicht nach Paragraf 323 c StGB strafbar machen.

Es ist kein Geheimnis, dass viele Frauen sich im Dunkeln nicht allein auf die Straße trauen. Und ganz ungerechtfertigt scheint diese Angst auch nicht zu sein. Fast jede Frau wurde schon mit bedrohlichen Situationen konfrontiert – oder hat eine Bekannte, der solches widerfahren ist. Soll man sich nun ins traute Heim zurückziehen und potenziellen oder tatsächlichen Straftätern freiwillig das Feld überlassen? Wohl kaum. Besser ist es, sich selbst in die Lage zu versetzen, auch im Ernstfall nicht starr vor Angst kaninchengleich die Täter-Schlange anzustarren, sondern entweder schnell wegzulaufen oder zum Verteidigungsschlag auszuholen.

Karoline V. beispielsweise treibt schon eine geraume Weile Kampfsport. Wer ihr unerwünscht zu nahe kommt, muss auf Gegenwehr gefasst sein. Weil die im Ernstfall auch mal etwas härter ausfallen könnte, ist es gut zu wissen, dass es sich dabei um Notwehr handelt und sie mithin straffrei bleibt (siehe Kasten). Verzwickt wird die Sache, wenn aus dem Opfer ein Täter wird. Bei einem Übergriff in der Parkgarage setzt sich Karoline mit zwei geübten Schlägen blitzschnell zur Wehr und den Gegner schachmatt. Der Angreifer liegt nun ohnmächtig mit dem Kopf in einer Blutlache, weil er beim zweiten Schlag ausrutschte und dabei rückwärts auf den Steinboden fiel. Fährt die Selbstverteidigerin jetzt einfach weg, ohne zu helfen, macht sie sich strafbar: wegen unterlassener Hilfeleistung und – darüber sind sich Juristen allerdings uneinig – möglicherweise sogar wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB), falls der Angreifer in der Folge zu Tode kommt.

Opfer und Helfer stehen mit der Entscheidung, wie sehr sie sich wehren oder anderen helfen, vor der Grenze der Zumutbarkeit. Wie weit man im Rahmen der Notwehr geht, hängt im Einzelfall davon ab, wie viel sich jeder zutraut. Stößt man etwa einen Angreifer nur vorsichtig weg, anstatt richtig zuzuschlagen, so besteht die Gefahr, dass er sich durch den sanften Stoß nicht nur nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt, sondern noch zusätzlich provoziert fühlt und gewalttätiger wird. Einen verbalen Angriff aber – und sei er noch so beleidigend – gezielt mit der Schusswaffe zu beantworten, mag zwar filmreif sein, bleibt indes nicht straffrei.

KATHARINA JABRANE

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