: „Abschied von vielen Mythen“
Interview PETER BERN und ANDREAS SPEIT
taz: Die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina scheinen in der Sackgasse zu stecken. Welche Stimmen in Israel und Palästina beeinflussen den weiteren politischen Weg?
Mosche Zuckermann: In der Tat scheint im Moment die Sackgassen-Atmosphäre den Diskurs zu bestimmen. Aber natürlich ist das keine Sackgasse im Sinne eines totalen Stillstandes. Es gibt immer wieder Impulse – gewalttätige oder diplomatische. Die Frage ist, inwieweit diese Bewegung grundlegende Bedingungen für den Frieden schaffen kann. Aber auch wenn es noch zu einer schnellen Vereinbarung kommen sollte, müsste diese erst einmal vom israelischen Wahlvolk akzeptiert werden. Da befürchte ich böse Überraschungen. Denn die Stimmung in Israel hat sich verändert. Es ist ein deutlicher Rechtsruck der Gesamtbevölkerung zu bemerken, was den Wahlsieg des rechten Likud-Kanditaten Ariel Scharon zur Folge haben dürfte. Bei der Linken wird das Szenario eines „weißen Wahlzettels“, also weder Scharon noch Barak, erwogen – ein Ausdruck der Verzweiflung, denn der „weiße Wahlzettel“ begünstigt objektiv Scharon. Auf palästinensischer Seite sind nur noch sehr zaghafte Stimmen für Weiterverhandlungen hörbar. Die teils geheimen Verhandlungsstränge zielen nicht mehr auf eine in absehbarer Zeit erreichbare, umfassende Lösung.
Ist eine Annäherung in den zentralen Positionen – Teilung Jerusalems, Anerkennung der Grenzen von 1967 mit der Konsequenz der Beendigung der israelischen Siedlungspolitik sowie in der Frage der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 und deren Nachkommen – derzeit überhaupt möglich?
Ich denke nicht. Gleichwohl ist aber auch endgültig klar geworden, dass keine künftige Lösung des Konflikts an diesen Problemkomplexen wird vorbeigehen können. Das dürfte der bislang einzige „Gewinn“ aus der blut- und opferreichen Intifada sein.
Über 300.000 Israelis demonstrierten kürzlich in Jerusalem gegen eine palästinensische Souveränität über die Altstadt. Welchen Preis müsste Israel für den Frieden bezahlen und würde er das säkular-zionistische Selbstverständnis Israels erschüttern?
Der zu zahlende „Preis“ wäre eben die Lösung der vorhin angeschnittenen Probleme: Rückgabe von bis zu 95 Prozent der im 1967er Krieg von Israel eroberten Gebiete. Weitgehender Abbau von Siedlungen. Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Und eine prinzipielle Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge, das sich aber – entgegen panischen Endzeitvorstellungen – keineswegs in eine reale palästinensische Massenmigration ins Kernland Israel verwandeln würde; jedenfalls nicht unmittelbar. Über die Zahl der nach Israel einwandernden, den Umfang der materiellen Entschädigung der nicht zurückkehrenden, die Unterbringung und Etablierung der nach Palästina emigrierenden beziehungsweise in anderen Ländern lebenden Palästinenser müsste man sich eben in tiefer gehenden Verhandlungen einigen. Das ist kein „Preis“, sondern Vorbedingung für jeglichen dauerhaften Frieden. In der Tat dürfte dies die Verabschiedung einiger Mythen und Ideologien der israelischen Gesellschaft zur Folge haben.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz ist von der Ablehnung des „umfassenden Friedensabkommen durch die palästinensische Nation“ enttäuscht und sieht in einem „expliziten Rückkehrrecht von Pälastinensern das Ende Israels“. Eine Stimme der kritischen israelischen Öffentlichkeit?
Die Enttäuschungen Amos Oz' spiegeln, trotz vorgeblicher Liberalität, genau die Grenzen der klassischen zionistischen Linken wider, die ja bekanntlich immer weiß, was die Palästinenser zu wollen, wie sie ihren Befreiungskampf durchzuführen und womit sie sich zu begnügen haben. Es wird Zeit, dass er anfängt zu begreifen, wie sehr man auf der anderen Seite genug hat von seinem und seinesgleichen Narzissmus.
Kann die palästinensische Seite Vorbedingungen für einen Frieden schaffen? Und will Jassir Arafat ein Umdenken in Palästina einleiten?
Schwer zu sagen. Beim Gesamtverlauf der Intifada ist nicht sicher zu entscheiden, ob Arafat den Gang der Dinge „bestimmt“ oder von ihnen getrieben wird; ob er eine Gesamtstrategie verfolgt oder die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Eines ist gleichwohl klar: Die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern ist größer denn je. Es ist unermesslich, was in den letzten Monaten alles an Vertrauen zusammengebrochen ist, das in jahrelanger Praxisarbeit behutsam aufgebaut wurde.
Mehr als 370 Menschen wurden seit Beginn der Unruhen im September getötet, die meisten von ihnen Palästinenser. Sie kritisieren, dass in Israel mit dem Verweis auf den Holocaust und die Diaspora-Bedrohung die Okkupationspolitik legitimiert wird. Ist eine Trennung zwischen israelischer Gedenkpolitik und realer Tagespolitik überhaupt möglich?
Sie ist deshalb möglich, weil die Gedenkpolitik eben zu einem nicht unerheblichen Teil Politik ist, das heißt ideologisch lanciert wird. Mehr als die realen Ängste der Leute, mehr als das wahrhafte Andenken an die historischen Opfer spielen dabei machtpolitische Interessen eine Rolle. Ich sagte ja, bei einem wirklichen Frieden wird man sich von vielen Mythen und ideologischen Selbstverständnissen verabschieden müssen. Es geht also nicht um das wahrhaftige Holocaust-Andenken, sondern um seine Ideologisierung. Ich muss allerdings sagen, dass sie bei der jetzigen Intifada eine eher zweitrangige Rolle gespielt hat.
Seit den von Clinton eingeleiteten Gesprächen hat Israels Premier Barak die politische Macht in der Knesset verloren. Werden erst nach den Wahlen am 6. Februar ernsthafte Verhandlungen in Frage kommen? Kann die israelische Friedensbewegung noch etwas bewirken?
Die israelische Friedensbewegung ist momentan, gemessen an den historischen Entscheidungen, die zu Debatte stehen, in tiefem Schlummer befangen. Sie ist „schockiert“ über die Palästinenser beziehungsweise „enttäuscht“ von ihnen. Auf die würde ich zur Zeit nicht allzu viel setzen. Da sie zudem die Wahlen Scharon ins Amt des Ministerpräsidenten befördern könnten, bin ich mir nicht ganz sicher, was für eine Bewegung in die Verhandlungen gebracht werden wird.
Sehen Sie im möglichen Wahlsieg Scharons das Ende der aktuellen Friedensbemühungen? Das Osloer Abkommen hat er schon für obsolet erklärt.
Nach dem Wahlprognossen führt Scharon mit 25 bis 30 Prozent. Die Leute haben eine dermaßen große Aversion gegenüber Barak, das sie ihm nicht erneut die Stimme geben wollen. Es wird insofern nicht Scharon gewählt, sondern Barack abgewählt. Nur wenn Schimon Peres der Spitzenkandidat der Arbeitspartei würde, könnte sich dies vielleicht noch ändern. Der Nahe Osten kann objektiv nicht in dem Zustand der letzten 50 Jahren verharren. Früher oder später wird ein Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina vereinbart werden. Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wie viele Stationen der Gewalt noch passiert werden müssen. Und mit Scharons Wahlsieg ist zu befürchten, dass es noch einige Stationen der Gewalt werden.
Die deutsche Bundesregierung reagiert verhalten auf den aktuellen Konflikt. Erwarten Sie mehr Engagement?
Ich würde insgesamt ein größeres Engagement Europas im Nahostkonflikt wünschen. Israel wie Palästina sind wirtschaftlich von Europa abhängig, wenn nicht jetzt, dann in absehbarer Zukunft. Das müsste konstruktiv ausgenutzt werden. Welche Rolle dabei Deutschland zu spielen hätte, bestimmt sich meines Erachtens nicht durch dieVergangenheit – oder durch die Gedenkpolitik, sondern durch die objektiven Machtverhältnisse der Gegenwart in Europa. Da kann man sich noch so winden und wenden: Deutschland ist – objektiv – zur Weltmacht avanciert.
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