: Papa, was ist ein Todeslager?
Tazmamart – so hieß das schlimmste Gefängnis Marokkos. Darüber hat Tahar Ben Jelloun einen Roman geschrieben. Nun prasselt Kritik auf den kritischen Intellektuellen nieder
„Der Autor in der Dritten Welt muss nicht nur Schöpfer sein, sondern auch Anwalt, Sozialarbeiter, Richter, Unterhaltungskünstler, Pädagoge und ein professioneller Ankläger.“ Mit diesen hehren Worten beschrieb Tahar Ben Jelloun einmal sein Selbstverständnis. Sein Buch „Papa, was ist ein Fremder?“ wurde auch in Deutschland zum Verkaufsschlager. Jetzt hat der Schriftsteller einen neuen Roman vorgelegt. Mit dem in Frankreich erschienenen Buch „Cette aveuglante absence de lumière“ („Dieses erblindende Fehlen von Licht“) wollte Jelloun seinem hoch gesteckten Anspruch gerecht werden. „Das Buch, das ich wirklich mit dem Bauch geschrieben habe“, handelt vom wohl dunkelsten Kapitel der Geschichte der marokkanischen Unabhängigkeit, dem Todeslager in Tazmamart. Da man mit einem Verkaufserfolg rechnet, hat Ben Jelloun 800.000 Franc Vorschuss erhalten. Doch die Überlebenden des Geheimgefängnisses im Atlasgebirge kritisieren jetzt Ben Jelloun.
„Tazmamart ist ein Meer von Unglück und Dunkelheit. Es kann nicht einfach jeder darüber sprechen, um Profit daraus zu schlagen“, greift Ahmed Marzouki den Schriftsteller Jelloun an. Marzouki war zusammen mit 57 anderen Soldaten 18 Jahre in Tazmamart lebendig begraben. Kein Licht, keine Decken, keine medizinische Versorgung, verdorbenes Essen, Feuchtigkeit und Kälte – König Hassan II. rächte sich auf seine Art an den Armeeangehörigen, die Anfang der Siebzigerjahre zwei Putschversuche gegen ihn unternommen hatten. Als Tazmamart auf Druck der internationalen Öffentlichkeit 1991 aufgelöst wurde, waren nur noch 28 der Insassen am Leben – alle schwer krank.
„Tahar Ben Jelloun hat früher kein einziges Wort über Tazmamart geschrieben. Er schwieg immer. Warum äußert er sich heute?“, fragt Marzouki. Besser spät als nie, könnte man natürlich denken. Aber das Schweigen Ben Jellouns war in der Tat erstaunlich. Menschenrechtsverletzungen in Frankreich, Tunesien, Algerien oder Tschetschenien prangerte er in den vergangenen Jahren häufig an. Bis zum Tod von Hassan II. im Sommer 1999 schwieg er sich aber zu den Zuständen in seiner Heimat fast vollständig aus. Mehr noch: Er ließ es zu, dass Hassan II. ihn einmal wie einen Ehrengast empfing.
„Ich hatte wie viele Leute einen Verdacht, dass etwas Schlimmes passierte. Aber ich wusste nichts von der furchtbaren Wirklichkeit von Tazmamart“, verteidigt sich der ehemalige Gymnasiallehrer in Casablanca, der heute in Paris lebt. Das ist vielleicht nicht die ganze Wahrheit. „Er hat mir gegenüber zugegeben, dass ihm einfach der Mut fehlte“, berichtet Christine Daure-Serfaty, die Frau des wohl bekanntesten Regimegegners unter Hassan II., Abraham Serfaty, auf den Seiten der französischen Tageszeitung Le Monde. Doch auch sie ist enttäuscht: „Ich habe ihm vergangenen Oktober einen Brief geschickt, um ihm zu sagen, dass ich ihn nicht dafür kritisieren werde, dass er jetzt über Tazmamart schreibt, aber sehr wohl für sein früheres Schweigen.“ Daure-Serfaty legte nur ein Jahr nach Öffnung des Lagers den ersten ausführlichen Bericht über die Grauen von Tazmamart vor.
Selbst der Mann, der Ben Jelloun in tagelangen Gesprächen Einblick in den Alltag der Strafkolonie bot, äußert sich nun kritisch. „Ich bedaure mit Jelloun zusammengearbeitet zu haben“, sagt Aziz Binebine. Er könne sich nicht mit dem Buch identifizieren, beschwert sich der Exgefangene, der die Hölle in der Hölle, den Block B des Geheimgefängnisses, durchgemacht hat. Von 29 Insassen überlebten dort nur sechs. Außerdem bezeichnet Aziz Binebine das Vorgehen Ben Jellouns mittlerweile als „Belästigung“.
„Ich habe niemanden zur Zusammenarbeit gezwungen“, entgegnet Jelloun, der Binebine vertraglich die Hälfte der Autorenrechte zugesichert hat: „Ich habe keinen Augenzeugenbericht geschrieben, sondern einen Roman über den Widerstand gegen die allgegenwärtige Barbarei und den Horror.“ Von seiner Hälfte der Einnahmen will er einen Teil an marokkanische Menschenrechtsorganisationen spenden. Die zeigen sich in der Zeitung Libération aber nicht sonderlich begeistert: Von so einem Menschen könne man kein Geld annehmen, schreiben sie.
Zumindest die französische Literaturkritik kommt dem angeschlagenen Schreiber zu Hilfe: „Tahar Ben Jelloun hat allen Grund, die Freiheit des Autors ins Feld zu führen. Egal welche Gefühle die Überlebenden, die Opfer und deren Familien hegen, Tazmamart ist ein öffentliches Gut, seit Gilles Perrault in seinem Buch ,Unser Freund der König‘ von der Existenz des geheimen Straflagers berichtete. Zum Glück, denn wenn nicht, dann hätte es keine Überlebenden gegeben“, heißt es in Le Monde. Was aber den Vorwurf der Verspätung Ben Jellouns nicht entkräftet. REINER WANDLER
Tahar Ben Jelloun: „Cette aveuglante absence de lumiere“. Editions du Seuil, Paris 2001, 229 Seiten, 110 Franc
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