: Masse ist klasse
Unser Agrarsystem ist nicht mehr kontrollierbar, wie BSE als ein Beispiel zeigt. Nötig sind daher neue Förderkriterien wie Transparenz und Tiergesundheit – sowie ehrliche Preise
„Ungeachtet wissenschaftlich fundierter Fakten werden im Namen des Verbraucherschutzes populistische politische Entscheidungen getroffen, die für die betroffenen Wirtschaftskreise erhebliche ökonomische Folgen haben.“ Hier schäumt kein Bauernverbandspräsident über die neue Ministerin Künast. Das Zitat stammt vom Präsidenten der beamteten Tierärzte aus dem Herbst 2000. Anlass war die EU-Entscheidung, Deutschland müsse fortan verstärkt Risikomaterial bei Rindern, Schafen und Ziegen vernichten. Noch deutlicher („eine glatte Unverschämtheit“) reagierte ein ehemaliger Abteilungsleiter der Bundesanstalt für Virusforschung: „hirnverbrannt“. Er plädierte für Rechtsbruch. Die für die Fleischbeschau zuständigen TierärztInnen sollten die Entscheidung ignorieren. Achtung – keine Satire: „Hier ist Zivilcourage geboten. Einer Klage vor dem EUGH können wir sicher beruhigt entgegensehen.“
Zwar behaupten heute Standesvertreter aus Landwirtschaft und Tiermedizin ebenso wie Politiker, nie etwas gewusst zu haben, nie richtig informiert worden zu sein. Dieses angebliche Nichts hat ihnen aber jahrelang gereicht, um hundertprozentige Sicherheit und BSE-Freiheit zu garantieren. Zur Klärung der Verantwortlichkeit sollte deshalb weniger interessieren, wer wann was wusste, als wer wann was hätte wissen können.
So war es in den 90er-Jahren schlichter Anachronismus, dass Unübersichtlichkeit und Unwägbarkeiten in der Ernährungsindustrie zugunsten der Globalisierung immer mehr zunahmen, dass jedoch die Gelder für die Kontrolle sukzessive gestrichen wurden. Dazu zählt auch die Privatisierung der Schlachthöfe und die dramatische Reduzierung der tierärztlichen Fleischbeschau. Selten wurde offensichtlicher als heute, was die Externalisierung von Kosten durch die Industrie für die KonsumentInnen bedeuten kann: gestern am Billigfleisch sparen und morgen doppelt bezahlen, vielleicht sogar mit dem Leben.
So ist es nicht möglich, auf einer Anlage erst Futter-A und dann Futter-B zu produzieren und gleichzeitig zu garantieren, dass sich im B-Futter keine Rückstände vom A-Futter befinden. Egal ob Futter-A Antibiotika enthält, gentechnischen Mais oder eben Tiermehl: eine Garantie für Futter-B bedarf der strikt getrennten Herstellung. Der Industrie ist das zu teuer. Nur wenn den Überwachungsbehörden dies egal ist, wird nicht getestet oder ein bedenkliches Testergebnis nicht bekannt gemacht.
Wem was wichtig ist, wurde auch Ende der 70er-Jahre deutlich, als die Futtermittelindustrie die Abschaffung der offenen Deklaration durchsetzte. Begründung: Man würde gleichbleibende Gehalte an Fetten, Eiweißen und Mineralstoffen garantieren, könne aber nicht laufend neue Etiketten drucken. Seitdem mussten nur noch die Anteile an Futterinhaltsstoffen ausgewiesen werden, nicht aber, woher sie stammten.
Während die Kosten sparende Fahrlässigkeit der Agroindustrie skandalös ist, lässt sich die anfängliche Ignoranz der Politiker außerhalb Großbritanniens verstehen. Denn es gab gute Gründe, den Rinderwahn für ein britisches Problem zu halten: dort war der Anteil der Schafe im Tiermehl sehr hoch, die zudem häufig an Skrapie erkrankt waren; außerdem war das britische Herstellungsverfahren für Tiermehl zweifach verändert. Es wurde weniger hoch erhitzt und kein Fett extrahiert. Die verbleibenden Fette konnten nun bei der Erhitzung einen Schutzmantel für die Prionen bilden.
Doch das Verständnis für die anfängliche Tatenlosigkeit der Politiker muss spätestens 1988 enden. Damals verbot Großbritannien die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer, das allgemein als der Hauptverbreitungsfaktor für BSE galt. Spätestens dann hätte auch der Rest der Welt größte Vorsicht walten lassen müssen, zumal der Export von britischem Tiermehl weiterhin legal war. Doch nichts geschah: Es dominierten Wünsche, nicht Taten. Wer mag beispielsweise bei argentinischem Fleisch an Tiermehl denken. Und in den USA konnte die Futtermittelindustrie noch bis 1997 die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer durchsetzen.
Wer wollte, hatte sich noch bis 1990 mit der Annahme beruhigt, der Erreger überwinde zwar die Artenschranke zwischen Schaf und Rind, trete aber nur bei Wiederkäuern auf. Doch inzwischen waren auch Katzen an BSE erkrankt: durch direktes Einspritzen von infektiösem Material in ihr Gehirn und sogar durch Futter. Damit war die Parole, BSE könne nicht auf den Menschen übertragen werden, als unverantwortlich entlarvt worden. Dennoch wurde an ihr noch bis 1996 – den ersten Fällen beim Menschen – festgehalten.
Auch Schweine können durch direktes Einspritzen von infektiösem Material in ihr Gehirn BSE bekommen. Aber weil sie in einem Fütterungsversuch mit zehn (!) Tieren nicht erkrankten, gelten sie vielen als ungefährdet. Leichtfertigkeit zeigten Mitte der 90er auch die Medien. Die sommerliche Ente: Die meisten britischen BSE-Fälle hätten keinen Rinderwahn, sondern seien von ihren Besitzern mit Whisky gedopt worden, um die Schlachtprämien einzustreichen. Die Frage muss erlaubt sein, ob sich Deutschland immer noch als BSE-freie Insel der Glückseligen deklarieren würde, hätte Schleswig-Holstein nicht aus der Pallas-Affäre gelernt und am 24. November 2000 erstmals ein originär deutsches BSE-Rind unverzüglich öffentlich zugegeben.
Eine andere Legende könnte sich als Funkes hartnäckigstes Erbe erweisen: Die betroffenen Rinder, tönten Funke und Sonnleitner nach den ersten offiziellen deutschen BSE-Fällen, würden ja aus traditionell bäuerlichen Betrieben stammen. BSE habe mit der so genannten industrialisierten Landwirtschaft nichts zu tun. Doch umgekehrt stimmt es: Die Industrialisierung ist so fortgeschritten, dass die meisten Betriebe – ob groß, ob klein – ihr Kraftfutter aus denselben Fabriken beziehen. Zudem handelt es sich bei den betroffenen Betrieben um bundesdeutschen Durchschnitt.
„Verdient wird weniger in als an der Landwirtschaft“ – dieser wahre, aber für viele wenig verständliche Satz bekommt derzeit Konturen. Die chaotische Unübersichtlichkeit müsste auch dem Letzten deutlich machen, dass dieses System unkontrollierbar ist. Klasse ist es nur für die, die mit Masse Kasse machen. Die Agrarlobby wird als Interessenvertretung derer sichtbar, die Masse klasse finden. Dabei wird meist an die Interessen der chemischen Industrie gedacht, die neben Saatgut auch Dünger und Pestizide in großen Mengen absetzen will. Aber auch Transportunternehmen und Schlachthöfe zählen zum agroindustriellen Komplex. Je mehr junge Schweine erst nach Portugal gefahren und dann mit „Mastendgewicht“ in Deutschland geschlachtet werden, desto besser. Um ausgelastet zu sein, ist es für die Futtermittelindustrie unerheblich, ob sie für die Mägen von Hühnern, Rindern oder Schweinen produziert, so lange nur der Fleischkonsum nicht sinkt. Derweil wird das existenzielle Interesse der Pharmaindustrie an der Massentierhaltung immer noch sträflich ignoriert. Propagiert werden Medikamente ab dem ersten Lebenstag; Rezepte à la Antibiotika „für alle“ werden auch in den Bauernblättern abgedruckt. Die Masse macht’s. Während Qualität kaum Konjunktur hat, dürfen sich praktische TierärztInnen, die wegen der geringen Honorierung ihrer Beratung Existenzprobleme haben, bei ihrem Bundesverband BPT bedanken: Statt Missstände öffentlich zu machen, engagierte er sich für ein „weiter so“. Denn: „Je mehr Tiere von einer Person betreut werden, um so eher muss davon ausgegangen werden, dass dies professionell geschieht.“
Politische Ignoranz hat die gefährliche Unkontrollierbarkeit des Agrarsystems bewirkt, von der der agroindustrielle Komplex profitiert. Das Hauptziel muss jetzt wiedergewonnene Transparenz sein: Hinter dem Billigfleisch verbirgt sich nicht nur Tierleid. Energievergeudung, Chemie- und Medikamentenrückstände (auch im Grundwasser) verursachen Kosten für die Steuerzahler. VerbraucherInnen und PolitikerInnen müssen verfolgen können, woher ihr Fleisch stammt und wie viele Transportkilometer die Schlachttiere zurücklegen.
Das Ergebnis muss sein, dass Bauern mehr für ihre Produkte bekommen und Verbraucher mehr zahlen. Gesunde Lebensmittel können nur von gesunden Tieren kommen. Sie brauchen Platz im Stall und auf der Weide sowie Zeit zum Wachsen. Das Gegenteil – Hochleistungszucht und Intensivtierhaltung – ist ohne massiven Medikamenteneinsatz nicht möglich. Daher sollte ein Hauptkriterium für künftige Fördermaßnahmen sein, ob dauerhaft weniger Tierarzneimittel eingesetzt werden. Nur wem Fleisch nicht nur lieb, sondern auch teuer ist, darf sich weiterhin auf den Sonntagsbraten freuen. ANITA IDEL
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