: „Trittin ist nie durch Gewalttätigkeiten aufgefallen“
Um den „Mescalero“-Nachruf entzündete sich 1977 ein heftiger Streit um Verbot und Meinungsfreiheit. In einer absoluten Nebenrolle an der Uni Göttingen agierte Jürgen Trittin
HANNOVER taz ■ Da ist bei einer zufälligen Begegnung im Zug etwas von dem politischen Klima des Jahres 1977 wieder auferstanden. Der Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, Michael Buback, verlangte von Bundesumweltminister Trittin eine Distanzierung von einem 1977 in der Göttinger Asta-Zeitung erschienen „Nachruf“ auf seinen Vater (siehe Dokumentation Seite 12). Jürgen Trittin fragt zurück: „Warum sollte ich?“, und erkundigte sich beim zufälligen Gegenüber noch danach, ob er den Nachruf überhaupt „zu Ende gelesen“ habe.
Das war das Jahr 1977: Am 7. April waren Buback und sein Fahrer von der RAF erschossen worden. Im Frühsommer entzündete sich der Streit um den Nachruf. Im Herbst wurde Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt, im Oktober getötet, kurz nachdem sich im Stammheimer Gefängnis Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe ums Leben gebracht hatten.
„Wer sich distanziert, klagt sich an“, lautete damals die Parole, mit der die Göttinger Studenten die von einer geradezu hysterischen Medienöffentlichkeit erhobene Distanzierungsforderung vom „Nachruf“ zurückwiesen. Der von einem unbekannten Mitglied der Spontigruppe „Bewegung undogmatischer Frühling“ verfasste Nachruf begann zwar mit dem Eingeständnis des Verfassers: „Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen“, endete aber mit der Aussage: „Linke dürfen keine Killer sein, keine Brutalos . . .“
Trittin spielte in den Auseinandersetzungen an der Göttinger Uni keineswegs eine tragende Rolle. Dem Asta gehörte er erst Jahre später an. Er war 1977 für eine „Sozialistische Bündnisliste“ im Fachschaftsrat Sozialwissenschaften. Diese Liste war ein Zusammenschluss von Kommunistischem Bund, Mitgliedern der trotzkistischen GIM und anderen linken Studenten. Zusammen mit der „Bewegung undogmatischer Frühling“ stellte sie den Asta, der die Studentenzeitung Göttinger Nachrichten zu verantworten hatte.
Die Empörung über den Artikel des anonymen Mescalero setzte mit einiger Verzögerung ein. Schließlich stellte Bundesjustizminister Jochen Vogel Strafantrag gegen den anonymen Verfasser. Fünf Wochen nach dem Erscheinen des Nachrufs durchsuchten mehrere Hundertschaften Polizei die Räume des Asta und 19 Wohnungen und Läden in Göttingen. Eine Gruppe von 48 Hochschullehrern, an der Spitze der hannoversche Psychologieprofessor Peter Brückner, druckte den vollständigen Aufruf nach, wie zahlreiche andere Studentenvertretungen.
Eine bundesweite Welle von Strafverfahren und Prozessen war die Folge. Die Mitglieder des Göttinger Asta konnten vor Gericht einen Teilerfolg verbuchen. Verurteilt wurden schließlich nur die beiden presserechtlich verantwortlichen Redakteure, und dies nicht wegen Befürwortung einer Straftat oder gar Unterstützung der RAF. Wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener mussten sie jeweils 1.800 Mark Geldstrafe zahlen. Peter Brückner, der als Einziger der 48 Hochschullehrer vom Dienst suspendiert wurde, wartete vergeblich auf seine Rehabilitierung. Er starb, bevor sein Disziplinarverfahren abgeschlossen war.
Jürgen Trittin wurde kürzlich sogar vom ehemaligem Göttinger Polizeipräsidenten Otto Knoke bescheinigt: „Trittin ist nie durch Gewalttätigkeiten aufgefallen. Er vertrat eine politische Linie, die vorn nicht auftrat, nicht gewalttätig“, sagte er im Göttinger Tageblatt. Wie viele Studenten, die zunächst im Kommunistischen Bund aktiv waren, trat Trittin über die Göttinger Alternative-Grünen-Initativen-Liste, die er 1980 mitgründete, schon drei Jahre nach dem Buback-Nachruf den Weg in die grüne Partei an.
JÜRGEN VOGES
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