: Totalitäre Attacke
Fischer, Trittin, Schröder, Schmidt: Die CDU bekämpft nicht nur Personen, sondern Politikentwürfe mit historischen Wurzeln. Statt Utopien fordert sie: „Keine Experimente“
Fischer hat einen Polizisten verprügelt, Trittin auf Meinungsfreiheit für ein fremdes Pamphlet bestanden, Ulla Schmidt in einer Nachtbar gearbeitet. Friedrich Merz besoff sich mit seinen Kumpels, weil ein linker Treff in Flammen aufging. Viele Spitzenpolitiker dürften in ihrer Jugend mit Drogen Kontakt gehabt haben, mal bei einem Ladendiebstahl erwischt worden oder mit einem frisierten Mofa zur Freundin gesaust sein. „Die Unkenntnis des Übels ist nicht Tugend, sondern Blödheit“, befand Bernhard Shaw.
Mehr als nur blöd ist jedoch die Debatte um die Vergangenheiten von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, Ulla Schmidt und Gerhard Schröder. Wer Individualität mit ihrer persönlichen Geschichte, ihren Irrungen und Fehlern, Verrücktheiten und Neuanfängen ausmerzen will, pflegt totalitäres Denken. Jede persönliche Identität – auch die politische – besteht aus der Integration eigener Vergangenheit in aktuelle politische Überzeugungen. Und aus dieser Integration können Entwürfe für die Zukunft erwachsen, Hoffnungen und Utopien. Daher geht es nur vordergründig um die konkreten Personen, deren Vergangenheit moralistisch zur Exkommunikation führen soll. Die grundsätzliche Frage ist aufgeworfen, ob erkennbare Individualität mit Macken und Kanten zum Ausschluss aus der Gemeinschaft zu führen hat. Und deshalb wäre das souveräne Bestehen auf eigener Vergangenheit nicht bloße Selbstverteidigung.
Zu Ende gedacht, richtet sich die Attacke konsequenterweise gegen jeden Politikentwurf mit historischen Wurzeln. Wer nicht von Anfang an mit unangreifbaren Plattitüden und geölten Meinungsmachern auf der politischen Bühne erscheint, hat nie mehr etwas auf ihr zu suchen. Nur: Die allfälligen Klagen über langweilige Wahlkämpfe oder Entfremdung zwischen Parteien und Bürgern sind Symptom desselben Problems: Der eineiige Zwilling aalglatter politischer Vergangenheiten heißt Politikverdruss. Kaum unterscheidbaren politischen Parteien mangelt es an Persönlichkeiten mit Charisma. Stattdessen springen Politentertainer als fertige Meister vom Himmel und möllemännern vor laufenden Kameras, wie es gerade kommt. Bloß keine störenden Konturen zeigen, die man am Ende rechtfertigen muss. Der perfekte Politiker als Mensch ohne Eigenschaften. Um im Wahlkampf zu überzeugen, sollen menschelnde Posen Authentizität ersetzen. Wo Inhalte fehlen, wird tief in die PR-Klamottenkiste gegriffen.
Wäre allerdings konturlose Glätte das einzige Erfolgsrezept politischer Repräsentanten, hätte Clinton in seinem Oval Office die Lewinsky-Affäre keine zwei Wochen überstanden. Alle Welt bekam einen gewieften Medienprofi präsentiert, der seine Zerrissenheit und Scham nicht mehr überspielen konnte. Clinton in China oder Israel, Europa oder Vietnam – wer immer seine Gesprächspartner waren, alle dachten das eine: Er ist wie wir oder, wie Meyer dichtete, „ein Mensch in seinem Widerspruch“, allerdings nicht Laurenz, sondern Conrad Ferdinand Meyer.
Wer seinen persönlich-politischen Werdegang mit all seinen Widersprüchen in die eigene Identität integriert hat, könnte auch dem plötzlich im ICE auftauchenden Sohn des RAF-Mordopfers Siegfried Buback sein Mitgefühl und seine Betroffenheit mitteilen, ohne etwas entschuldigen zu müssen, was man selbst nicht tat. Wer die wilden Frankfurter Jahre nicht als Makel, aber auch nicht als blankes Ruhmesblatt begreift, braucht keine Ewigkeiten, um sich erst unter dem Druck der Öffentlichkeit bei einem berenteten Polizisten zu entschuldigen. Und wer nicht unbewusst doch kleinbürgerlicher Doppelmoral aufsitzt, wird auch an einem Job in einer Nachtbar nichts Makelbehaftetes finden. Solange dies aber nicht begriffen wird, werden die Attacken der geistig-moralischen Wender weitergehen.
Die schwierige Gratwanderung der im Rampenlicht stehenden Personen besteht in der Anerkennung eigener Vergangenheit, jenseits von Hochmut oder knitteriger Zerknirschung. Nicht um Stolz auf Verfehlungen geht es, noch um ständige Schuldbekenntnisse, sondern um die Würde des Einzelnen, der seine persönliche Geschichte hat: Wer dies bekämpft, frönt totalitärem Denken. Und daher sind die Protagonisten nur vordergründig gemeint, geht es doch eigentlich um die Existenzberechtigung jedes persönlich-politischen Werdegangs.
Auffällig ist, dass in anderen europäischen Ländern die wilden Jahre der 68er mitnichten zur öffentlichen Diskriminierung taugen. In Italien oder Frankreich verbündeten sich zur gleichem Zeit Arbeiter und Studenten und marschierten gemeinsam gegen das verkrustete politische System wie gegen kapitalistische Ausbeutung. Und heute entstehen in Frankreich neue Bewegungen, die sich gegen Globalisierung wehren.
Das spezifisch Deutsche ist der Umgang mit eigener Vergangenheit, die einen immer wieder einholt, statt Teil des politischen Selbstverständnisses zu sein. Hier haben die Protagonisten die falsche Lektion gelernt. Ähnlich wie ihre Eltern und Großeltern vergessen sie rasch, was sie taten und wo sie herkamen – als müssten sie sich wie ebenjene ihres politischen Werdegangs schämen. Kriegs- und Nachkriegsgenerationen teilen die Unfähigkeit, den eigenen Werdegang als persönlich-politische Kontinuität zu begreifen. Doch wer aus Angst vor der Vergangenheit lediglich in der Gegenwart lebt, kann keine Entwürfe für die Zukunft entwickeln. Die bleierne Nachkriegszeit kannte nur das punktförmige Leben in der Gegenwart. „Keine Experimente“ – die CDU plakatierte mit ihrem Slogan schreckliche Vergangenheit und lebendige Zukunft gleichermaßen zu.
Doch gerade solche Entwürfe und Utopien fehlen in der politischen Debatte. Kein Wunder, sind sie doch die andere Seite ungeleugneter Individualität, aus der sie geboren und erträumt werden. Wer jede eigene Vergangenheit fürchtet und damit seine eigene Identität, verliert auch seine politische Kreativität. Politikverdruss verlangt nach Unterscheidbarkeit von Parteien und Persönlichkeiten. Wer eine Geschichte hat, ist transparent und authentisch, wer keine hat, ist nur anpassungsfähig und langweilig.
Daher steht nicht weniger auf dem Spiel als die kulturelle Leistung, Menschen mit ihrer ambivalenten Vergangenheit entweder zu akzeptieren oder zu verdammen. Fischer, Trittin, Schmidt und Schröder spielen nicht nur ihre eigene Rolle. Sie kämpfen als angegriffene Protagonisten gegen die Eindimensionalität der schrecklichen Vereinfacher für die bunte Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz. Und aus der Erfahrung eigener und kollektiver Vergangenheit erwachsen Ideen für Morgen, erträumte Korrekturen des selbst einmal Erlebten wenigstens für die Zukunft. Von seiner Vergangenheit kann sich niemand distanzieren, allenfalls zum Preis von Selbstaufgabe und Verleugnung. Wer aber immer nur brav gelebt hat, hat auch nichts anzubieten: weder eine Persönlichkeit noch politische Ideen. MICHA HILGERS
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