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Ein ganzer Erfolg für beide Seiten

Das Bundesverfassungsgericht macht keine allzu konkreten Vorgaben für die hessische Wahlprüfung. Das Wahlprüfungsgericht kann weiterarbeiten

aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH

Die hessische Wahlprüfung bleibt spannend. Auch nach der gestrigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist offen, ob die Landtagswahl von 1999 annulliert werden darf oder sogar muss. Sie macht dem hessischen Wahlprüfungsgericht zwar gewisse Vorgaben, lässt ihm aber auch so viel Spielraum, dass man wohl kaum von einer Vorentscheidung sprechen kann.

Klar ist zumindest, dass das Wahlprüfungsgericht weiter arbeiten kann, und zwar in seiner derzeitigen Besetzung. Die Regierung Koch hatte moniert, dass hier neben zwei Berufsrichtern auch drei Abgeordnete mitarbeiten, die sozusagen „in eigener Sache“ entscheiden. Diese Bedenken teilte Karlsruhe zwar. In der Zwischenzeit hatte allerdings das hessische Verfassungsgericht, der Staatsgerichtshof, erklärt, dass er im Bedarfsfall Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts durchaus kontrollieren werde. Damit, so Karlsruhe, sei jedoch „genügender Rechtsschutz“ gewährleistet.

Weitaus spannender war die Frage, welche inhaltlichen Vorgaben das Gericht für die Wahlprüfung macht. Die Regierung Koch wollte vor allem den Maßstab der „guten Sitten“ aus der Landesverfassung eliminieren. Dieser Maßstab sei so uferlos, dass eine darauf gestützte Wahlprüfung dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes widerspreche.

Doch auch hier bekam Koch, der gestern erst gar nicht nach Karlsruhe anreiste, weniger als verlangt. Der Maßstab der „guten Sitten“ sei angesichts der vielen denkbaren Konstellationen keineswegs zu „unbestimmt“, erklärte Karlsruhe. Außerdem sei der Maßstab auch mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes vereinbar – jedenfalls wenn er „einschränkend“ ausgelegt werde.

Und hier spitzten natürlich alle Verfahrensbeteiligten die Ohren: Würde Karlsruhe betont hohe Anforderungen aufstellen und damit Roland Kochs wackelnden Amtssitz stabilisieren? Der Schlüsselsatz des gestrigen Urteils lautet: „Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene.“

Bei Licht betrachtet hat die hessische Regierung damit nicht allzu viel gewonnen. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „guten Sitten“ wurde durch andere unbestimmte Rechtsbegriffe wie „erheblicher Wahlfehler“ und „unerträglicher“ Fortbestand des Landtags ersetzt. Die Auslegung obliegt nun wieder dem hessischen Wahlprüfungsgericht.

Wenig aussagekräftig ist auch der Hinweis, die sittenwidrige Wählerbeeinflussung müsse von ähnlichem Gewicht sein, wie die Straftatbestände zum Schutz der Wahl (zum Beispiel Wählerbestechung, Wählernötigung). Es fehlte jedenfalls die eigentlich von der CDU gewünschte Aussage, dass der Verstoß sich unmittelbar auf den Wahlvorgang oder den Inhalt der Wahlwerbung beziehen müsse. Dann nämlich wäre klar gewesen, dass die Verletzung einer Transparenzvorschrift bei der Wahlkampffinanzierung nicht zur Wahlaufhebung führen kann.

Der hessische Grünen-Abgeordnete Rupert von Plottnitz kommentierte das Urteil gestern trocken: „Das ist doch eine Binsensweisheit, dass man den Landtag nicht wegen einer Bagatelle auflösen kann.“ Dagegen bezeichnete, Jochen Riebel (CDU), der Chef der hessischen Staatskanzlei, das gestrige Urteil als „Donnerschlag“. Das Wahlprüfungsgericht solle nun seine Tätigkeit sofort einstellen: „Wer seine Sinne noch beisammen hat, muss zugeben, dass weder gegen die Freiheit noch die Gleichheit der Wahl verstoßen worden ist.“ Aus dem Karlsruher Urteil können also beide Seiten Argumente ziehen. Und sie können es diesmal durchaus zu Recht.

Für das Publikum mag dies zwar etwas unbefriedigend sein, aus verfassungsrechtlicher Sicht geht das Urteil aber in Ordnung. Schließlich kann das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung einer Landesverfassung nur krasse Verstöße gegen die Verfassungsprinzipien des Bundes reklamieren. Alles Weitere müssen die zuständigen Gerichte des Landes klären.

Nur eine eher technische Änderung verlangten gestern die Karlsruher Verfassungshüter. Entscheidungen des Wahlprüfungsgericht werden nicht mehr sofort rechtskräftig. Vielmehr haben die von einem Mandatsverlust betroffenen Abgeordneten einen Monat Zeit, den Staatsgerichtshof anzurufen. Eine Frist für dessen Entscheidung nannte Karlsruhe jedoch nicht.

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