: Was wir wissen wollen
Das taz-Ressort Inland: Mehr als Innenpolitik. Denn Kanzlerworte sind zu wenig für ein ganzes Leben
von EBERHARD SEIDEL
„Wir brauchen mehr pralles Leben und weniger dralle Politiker.“
Mit diesen Worten bat mich die Chefredaktion vor einem Jahr, die Ressortleitung im Inland zu übernehmen. Aber klar doch. Schließlich war die politische Aufregung um die Wiedervereinigung längst Geschichte, Rot-Grün bereits ein Jahr im Amt und eine Reihe von Landtagswahlen geschlagen.
Also drängte auch in der taz die Frage: Was gibt es außer dem Schnupfen von Kanzler Schröder, dem aktuellen Body-Mass-Index Joschka Fischers und den Schwarzgeldkonten der CDU noch Interessantes unter dem Himmel der Republik?
Warum „Inland“?
Fragen sind schnell gestellt, die Antworten dauern etwas länger. Für die Mehrheit der Menschen spielt sich das Leben außerhalb ihrer eigenen vier Wände noch allemal dort ab, wo die Kameras der ARD-„Tagesschau“ aufgebaut sind. Angela Merkel, Guido Westerwelle, Renate Künast, Franz Müntefering – kein Abend vergeht, an dem uns die Bundestagsparteien, die Regierung und die Opposition ihre Sicht des Weltenlaufs nicht erklären.
Auch unsere Leserinnen und Leser wollen dieses Leben zwischen Berliner Reichstag und den Parteizentralen in ihrer Zeitung wiederfinden. Zu Recht, schließlich gestalten die neuesten Änderungen in Riesters Rentenformel unser aller Zukunft. Das muss ebenso gewürdigt werden wie etwa die Führungskrise der CDU. Es wäre aber schlecht um die taz bestellt, wenn sie sich in ihrer innenpolitischen Berichterstattung auf die Vermeldung und Kommentierung mehr oder minder wichtiger Politikerworte beschränkte.
Was in anderen Zeitungen Innenpolitik heißt, wird in der taz nicht zufällig Inland genannt. Inland steht für einen erweiterten Politikbegriff. Inland ist das Gegenprogramm zum Mainstream, der die Vielfalt politischen und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland in die Zwangsjacke der Parlamente zwängt.
Aber was wollen wir wissen?
Anders als vor fünfzehn Jahren, als die sozialen Bewegungen Themen setzten, ist die Lage heute unübersichtlicher. Die politische Linke gibt es spätestens seit 1989 nicht mehr, und viele taz-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen ebenso wenig wie viele taz-Leser und Leserinnen, ob sie politische Mitte, radikaldemokratisch, Linke oder einfach nur pragmatisch sein wollen.
Inland heißt für uns heute, Themen zu finden und zu beschreiben, an denen sich mit entscheidet, wie wir in Zukunft zusammenleben werden.
Wie wird das zum Beispiel sein, wenn sich die Gesellschaft in Erben und Nichterben spaltet? Die einen in krisenfesten, hoch dotierten Berufen Reichtümer anhäufen und die anderen von einem prekären Job zum nächsten wandern? Auch der Rechtsextremismus ist für uns kein Modethema, an dem wir mal kurz das Grauen im Osten durchdeklinieren. Der Rechtsextremismus ist in allen europäischen Gesellschaften eine höchst vitale soziale Bewegung, die ihre Antworten auf die Begleiterscheinungen der Globalisierung und die Krise des Mannes liefert. Wir bieten nicht nur Informationen und Hintergründe, sondern verfolgen, wo sich zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen bilden, die für eine Demokratisierung der Gesellschaft unerlässlich sind.
Ein Wort zu uns Männern. Jeder weiß es, nur wenige sprechen darüber: Wir haben abgewirtschaftet. Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert sein, in dem Frauen in allen Gesellschaftsbereichen in bislang unbekanntem Ausmaß brillieren werden. Was sich heute bereits offen zeigt – Frauen sind intelligenter, machen bessere Abschlüsse –, wird sich möglicherweise bald zu einer soziologischen Zeitbombe entwickeln. Den Abstieg des alten Adam und die Neuordnung der Geschlechterrollen zu beschreiben, ist eine zentrale Herausforderung der Inlandberichterstattung.
Mehr als „Tagesschau“
Aber nicht nur an der Geschlechterfront werden Macht- und Dominanzverhältnisse neu verhandelt. Auch die Einwanderung wird die Bundesrepublik in Zukunft weit radikaler verändern, als sich das viele vorstellen mögen. Über die Politik des Zentralrats der Juden, über den jüngsten Anschlag auf eine Synagoge berichtet jeder. Wo anders als in der taz erfahren Sie zum Beispiel so viel über das muslimische Leben in Deutschland und über das Wirken der Interessenvertretungen der religiösen und ethnischen Minderheiten? In der taz finden Sie noch allemal mehr Quadratmeter Deutschland als in jeder „Tagesschau“.
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