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Neuanfang nach der Katastrophe

Einen Monat nach dem Erdbeben im indischen Gujarat ist die Notversorgung der Menschen gewährleistet und die Infrastruktur meist wieder instand gesetzt. Dies geht vor allem auf eine beispiellose Welle von Solidarität zurück

DELHI/GUJARAT taz ■ Einen Monat nach dem Erdbeben vom 26. Januar hängt immer noch eine Wolke von Staub, Gestank und Angst über den Dörfern von Gujarat. Die Räumungsarbeiten gehen langsam vor sich, weil viele Überlebende neben ihren Ruinen ausharren und hoffen, unter dem Schutt die Leichen von Angehörigen zu finden.

Bisher wurden über 19.000 Leichen geborgen, aber Listen über die Zahl der Vermissten lassen vermuten, dass noch weitere zehntausend Menschen unter den Trümmern liegen. Eine Million Menschen sind obdachlos, und hunderttausende verbringen die Nacht im Freien, aus Angst vor weiteren Beben. Seit dem 26. Januar wurden allein 270 Nachbeben registriert.

Die staatliche Infrastruktur funktioniert nach anfänglichen Problemen wieder. Die Regierung hat eine erste provisorische Schadenschätzung durchgeführt, nach der rund 300.000 Häuser in Dörfern und Städten beschädigt oder zerstört wurden. Mehrere hundert Dörfer wurden zu siebzig oder mehr Prozent dem Erboden gleichgemacht. Diese sollen nun an anderen Orten neu aufgebaut werden, da die Beseitigung des Bauschutts zu aufwändig ist. Die Infrastruktur in den Städten, oder was davon übrig blieb, ist wiederhergestellt. Gleichzeitig arbeitet die Regierung an einem Plan zur Finanzierung des Wiederaufbaus. Die Kosten werden auf rund acht Millionen Mark geschätzt, von denen der größte Teil von der Zentralregierung in Delhi beglichen werden wird. Denn die Kassen der Provinz sind nach der letztjährigen Dürre leer.

Die Notversorgung mit Zelten, Decken, Nahrungsmitteln, Kleidern und Medikamenten erfolgt nach wie vor überwiegend durch regierungsunabhängige Organsiationen (NGOs). Der Grund dafür liegt nicht nur in der Überforderung des Staats, sondern auch in der beispiellosen Welle von Solidarität, welche die Katastrophe ausgelöst hat. Während Transportflugzeuge aus dem Ausland einflogen, strömten Lastwagen, Privatautos oder Einzelpersonen per Eisenbahn und Bus mit Hilfsgütern in den am schwersten betroffenen Kutch-Bezirk. Dank dieser Anstrengungen ist es gelungen, Hunger und Epidemien bisher abzuwehren. Rund 200 NGOs haben sich in Ahmedabad in einer „Citizens Initiative“ organisiert, die einen großen Teil der privaten Hilfe koordiniert. Zahlreiche Unternehmen haben Dörfer adoptiert, errichten nun neue Wohnstätten und setzen die Infrastruktur instand.

Ein Zusammenschluss von 14 NGOs aus Kutch hat begonnen, lokale Selbsthilfegruppen in den Dörfern zu organisieren, damit diese ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Dies ist besonders wichtig in abgelegenen Weilern. Denn in den Dörfern der Salzwüste des „Ranns“ und in der Gegend von Rapar mussten die Menschen zwei Wochen auf die ersten Helfer warten. Eine Vertreterin der Frauen-NGO Swati meinte, es sei wichtig, dass die Regierung möglichst bald mit Arbeitsprogrammen für den Wiederaufbau beginne. Sie sprach von Dorfbewohnern, die nichts anderes wollten als Darlehen und die Bereitstellung von Steinen und Ziegeln, um ihre Häuser wieder aufbauen zu können.

Dies gilt besonders für die Dörfer, in denen die Menschen Subsistenzfarmer sind oder bei der Salzgewinnung arbeiten. Die Dürre des letzten Jahres hat dazu geführt, dass viele Bauern weder Nahrungsmittelreserven noch eine Beschäftigung haben. Im Salzgewerbe hat das Erdbeben zu einer Zuwanderung von Arbeitskräften geführt, welche die Tageslöhne auf ein Viertel des normalen Satzes fallen ließ.

Naturkatastrophen und die darauf einsetzende Hilfswelle ziehen unvermeidlich auch Geschäftemacher an. Es gibt vereinzelte Berichte, wonach Schwarzhändler an den Hauptstraßen Kinder benutzten, um an Hilfsgüter heranzukommen und diese in anderen Regionen zu verkaufen. Doch bei der riesigen Menge von Gütern schätzen die Hilfswerke die Verluste als gering ein. Zeitungen berichten von einem Zustrom von Bettlern aus Nachbarstaaten.

Es gibt auch vereinzelte Meldungen über politisierte Hindu-Organisationen, die ihre Sekten-Flaggen über Hilfsgütern flattern lassen und die Zuteilung abhängig machen von Treueschwüren oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste. „Natürlich gibt es Probleme von Verteilung und von Habgier, von Kasten- und Religionszugehörigkeit“, meinte der Entwicklungshelfer Adi Patel in Bhuj. „Doch jahrtausende alte Gewohnheiten verschwinden nicht über Nacht. Im Ganzen gesehen bin ich sprachlos über den Geist des Teilens, des Mitgefühls und der Sorgsamkeit, den ich hier erlebe.“ In Gujarat nähert sich die zweite Phase der Überlebenssicherung dem Ende. Nun muss mit dem langfristigen Wiederaufbau begonnen werden.

BERNARD IMHASLY

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