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Jede Ästhetik ist eine Moral

Was verbindet Heidegger, Hitchcock und TV-Trash? Als Filmkritiker bei den „Cahiers du Cinéma“ und „Libération“ machte Serge Daney das Querdenken zur Methode. Unter dem Titel „Von der Welt ins Bild“ erscheint erstmals eine Textauswahl auf Deutsch

Bei den „Cahiers“ kehrte man den Bildungsaristokraten heraus, um sich vom Bildungsbürgertum abzugrenzen

von RAINER GANSERA

Kein Zufall, dass die Liebe zum Kino französisch buchstabiert wird: Cinéphilie. Immer schon wurde das Kino in Frankreich in besonderer Weise gehegt und gepflegt, während es anderswo (hierzulande zum Beispiel) ein Kellerkind des kulturellen Lebens blieb. Kinodebatten fanden und finden in Frankreich an vorderster Front der intellektuellen Auseinandersetzungen statt. Die großen Aufbrüche des europäischen Kinos erhielten in Paris ihre entscheidenden Weihen, und eine Zeitschrift spielte dabei die führende Rolle: die Cahiers du Cinéma.

Dort wurden die Filme des italienischen Neorealismus gepriesen, als sie in der Heimat noch wenig Resonanz fanden; dort begannen die Autoren der Nouvelle Vague ihren Feldzug; und dort fand sich Serge Daney, als er in den Siebzigerjahren wesentlich dazu beitrug, dass die Autoren des Jungen Deutschen Kinos (Wenders, Fassbinder, Syberberg) zu internationalem Ruhm gelangten.

Als Serge Daney 1992 48-jährig an den Folgen von Aids starb, schrieb Wim Wenders: „Zu Serges Tod kann ich nur sagen, dass er mich zornig macht. Ich bin zornig, weil diese intelligente, leidenschaftliche Stimme zum Schweigen gebracht ist, während tausend andere fortfahren, uns ihre kurzsichtigen Meinungen und ihre den Tagesmoden unterworfenen Impressionen aufzudrängen. Ohne Serges unbestechlichen Blick wird sich das Niveau der Filmkritik (noch weiter) senken, unvermeidlich. (...) Wenn er uns bereits heute fehlt, wie sehr wird er dann erst in zehn Jahren fehlen?“

Jetzt, fast zehn Jahre nach seinem Tod, ist unter dem Titel „Von der Welt ins Bild“ eine erste Sammlung von Daney-Texten in deutscher Übersetzung erschienen, die erkennen lässt, wie sehr seine Stimme tatsächlich fehlt.

Daney war in den Siebzigerjahren Redakteur der Cahiers, in den Achtzigern Filmverantwortlicher bei der Tageszeitung Libération, kurz vor seinem Tod noch Begründer der Zeitschrift Trafic. Er war der herausragendste Filmkritiker seiner Generation und mehr als das: Zeit-Diagnostiker, brillanter Essayist. Er war und fühlte sich als Erbe der großen Cahiers-Traditionen. Den Kanon der dort heilig gesprochenen Filmemacher (Renoir, Rossellini, Hitchcock, Hawks) begründete er neu. Seine besten Texte widmete er den Autorenfilmern, mit denen er befreundet war und deren Karrieren er aufmerksam begleitete: Godard, Straub, Oliveira, Garrel, Ruiz, Jacquot, Moretti.

„Cahiers“-Erbe sein, das hieß für Daney: wissen und verteidigen, dass jede Ästhetik eine Moral ist und dass die Liebe zum Kino umgriffen wird von der Liebe zur Welt. Cinéphilie war für ihn kein Spezialistentum von Kinofans, sondern ein Weg der Versenkung und Welterschließung, eine Erfahrungsintensität. Über John Ford schreibt er: „Das Auge muss wach sein, weil es bei jedem Bild von Ford vorkommen kann, dass einige Zehntelsekunden lang reine Beschaulichkeit herrscht, bevor die Aktion einsetzt. Man verlässt eine Hütte oder eine Einstellung und sieht Folgendes: über einem Friedhof rote Wolken, in einem Eck der rechten Bildhälfte ein verlassenes Pferd; das blaue Gewimmel der Kavallerie; die erschütterten Gesichter zweier Frauen: All diese Dinge muss man zu Beginn der Einstellung sehen, denn es wird kein zweites Mal geben (schade für die faulen Augen).“

Daney dachte in und mit Bildern und formulierte lebendig wie in einem Gespräch mit Freunden. Wenn er als Gralshüter der Cinéphilie auftrat, dann so, dass er fortwährend die Möglichkeiten der Liebe zu „diesem sehr realen und sehr imaginären Teil der Bilderwelt, Kino genannt“, befragte. Er spielte vorsätzlich den Snob (entwickelte sogar ein kleine Theorie von der Notwendigkeit, als Filmkritiker ein Snob zu sein), um den Prediger und Missionar in sich im Zaum zu halten.

Er konnte die apokryphsten Zitate von Heidegger, Novalis und Meister Eckhart hervorzaubern und sich im nächsten Augenblick für die trashigsten TV-Krimis im Nachtprogramm begeistern. Auch das gehört zum Cahiers-Erbe. Man musste je nachdem den Bildungsaristokraten oder -proleten herauskehren, um sich in jedem Fall von der dekorativen und folkloristischen Kunstauffassung des Bildungsbürgers abzugrenzen.

Mitte der Achtzigerjahre konzentriert sich Daney zunehmend auf das Fernsehen, die Werbung, auf Phänomene der Massenkultur, und beschreibt den fatalen Sieg des Visuellen über das Bild: „Was ist dieses Visuelle anderes als ein gereinigtes Bild, eines, dem man das Risiko auf die Erfahrung des Anderen zu treffen (wer er auch sei), ausgetrieben hat.“ Wenn er die Benetton-Werbung kommentiert, hat das die querdenkerische Qualität von Roland Barthes’ Analysen der „Mythen des Alltags“, wenn er TV-Reality-Shows aufs Korn nimmt, prognostiziert er die Big-Brother-Zukunft des Fernsehens: „Vermarktung des Individuums und das Auslöschen der Erfahrung. Die einzige Erfahrung, die uns das Fernsehen heute vermittelt, gleicht der, die der amerikanische Tourist hinter den verspiegelten Scheiben seines vollklimatisierten Wagens macht“.

Daney vermeidet den abwinkenden Kulturkritiker-Gestus. Er zeigt sich als Neugieriger, als Seismograf. Der archimedische Punkt seines Schreibens ist eine Kinoerfahrung, die nostalgisch anmutet, aber als kämpferische Utopie aufzufassen ist. Er beschreibt sie gern mit einem Godard-Zitat: „Es muss ein Gefühl gegeben haben, der Welt anzugehören, wenn wir ins Kino gingen, ein Gefühl der Brüderlichkeit und Freiheit, von dem das Kino zeugte.“

Serge Daney: „Von der Welt ins Bild – Augenzeugenberichte eines Cinephilen“, Hg. Christa Blümlinger, aus dem Französischen von Christa Blümlinger, Dieter Hornig, Sivia Ronelt, Vorwerk8, Berlin 2000, 288 S., 38 DM

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