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Auf die Plätze. Fertig. Stopp.

Die Osterweiterung der EU ist beschlossene Sache. Während in Polen die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen, schiebt man in Berlin und Brandenburg das Thema lieber auf die lange Bank

von UWE RADA

Wie gut für die Osterweiterungsmuffel unter den Berliner und Brandenburger Politikern, dass es Leute wie Paul Welfens gibt. „Wenn man der strukturellen Wachstumslücke in Berlin und Ostdeutschland nicht sofort begegnet“, warnt der Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen in Potsdam, „wird die Osterweiterung der Europäischen Union die strukturschwachen Regionen polarisieren, die Bevölkerung radikalisieren, dann werden die rechtsradikalen Parteien die Gewinner sein.“ Schließlich träfen an Oder und Neiße zwei Grenzregionen zusammen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. „So etwas“, ist sich Welfen sicher, „ist sonst nur noch mit der Grenze zwischen den USA und Mexiko zu vergleichen.“

Angst um Westeuropa

Auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Metropolen im Prozess der EU-Osterweiterung“ erteilte Welfens in der vergangenen Woche dem schnellen Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn deshalb eine entschiedene Absage. „Eine übereilte Osterweiterung ohne hinreichende Reformen dürfte den großen Integrationsfortschritt Westeuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstören.“ Weil aber auch ein Wirtschaftswissenschaftler weiß, dass die politische Beschlusslage inzwischen anders lautet, beantragte Welfens, der Anwalt der westeuropäischen Integration, hilfsweise die Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Übergangsfristen von mehr als 15 Jahren, so der Potsdamer, dürften kein Tabu sein.

Die Erweiterungsfreunde im modernen Rund des Neubaus der SPD-nahen Stiftung mögen das nicht gern gehört haben. Doch auch sie wissen um die sonderbare Debattenlage in Sachen Osterweiterung, vor allem in der Hauptstadt. Vorzugsweise wird das Thema gar nicht erst erörtert, und wenn doch, dann in ein allzu grobes Schema von „Chancen“ und „Risiken“ gepackt. Das klingt dann wie „Kosten-Nutzen-Rechnung“ und ist wohl auch so gemeint. Ganz zum Entsetzen der Polen, Tschechen und Ungarn, die für ihr großes Ziel, die „Rückkehr nach Europa“, seit Jahren viele Durststrecken in Kauf nehmen. Was für die Beitrittsländer offenbar dazugehört, wird auf der anderen Seite allerdings noch immer verdrängt. „Auf deutscher Seite“, sagt die polnische Vizewirtschaftsministerin Teresa Malecka, „werden die Folgen der Globalisierung oft mit den Folgen des Erweiterungsprozesses verwechselt.“ Das klingt fast ein bisschen wie eine Mahnung, endlich den Tatsachen ins Gesicht zu blicken.

Malecka wirft damit aber auch eine Frage auf, die zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer und drei Jahre vor dem Beitritt der ersten Kandidatenländer längst auf der Tagesordnung stehen müsste. Wie vorbereitet ist man in der Grenzregion Berlin und Brandenburg auf die EU-Osterweiterung? Was unternimmt – oder unterlässt – man, um der Bevölkerung die Ängste zu nehmen? Wie viel an Osterweiterung gibt es schon heute, vor der endgültigen Öffnung der Grenzen?

Wo liegt Słubice?

Als der DGB-Vorsitzende von Berlin und Brandenburg, Dieter Scholz, einen Tag nach der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem Pressegespräch über die Chancen und Risiken der Erweiterung einlud, überraschte ein Pressevertreter mit der Feststellung, dass Słubice jene Stadt sei, die gegenüber von Eisenhüttenstadt liege. Solcherlei Unkenntnis wäre kaum der Rede wert, wäre sie nicht typisch für den Westteil einer Stadt, die jahrzehntelang nur den Blick in Richtung Westen geübt hat. Fragt man die Berliner Schulverwaltung danach, warum man an Berliner Schulen weitaus weniger Polnisch lernen kann als in Brandenburg, bekommt man Antworten, als wäre die Mauer nie gefallen. „Wollen Sie etwa, dass wir Polnisch regulär als zweite Fremdsprache anbieten?“, lautet die Rückfrage, derweil sich die jungen Polen jenseits von Oder und Neiße ins Fäustchen lachen. Im künftigen Europa der Regionen, so wissen sie, wird die Zweisprachigkeit in den grenzübergreifenden Wirtschaftsräumen bald zu einer wichtigen Qualifikation gehören. Aber auch innerhalb einer Übergangsfrist von 15 Jahren, so steht zu befürchten, wird man in manchen Bezirken und Ämtern Berlins noch immer nicht begreifen, dass Polen nur achtzig Kilometer entfernt ist, Paris oder London dagegen mehr als tausend.

Der Gewerkschafter Dieter Scholz weiß das, vor allem von seinen Mitgliedern, die um ihre Arbeitsplätze fürchten. Das Wissen um die Grenzlage Berlins und Brandenburgs hindert aber auch Scholz, wie viele seiner Gewerkschaftskollegen, nicht daran, auf die Erweiterungsbremse zu treten. „Politisch mag die Osterweiterung eine Chance sein“, sagt er, „für den Wirtschaftsstandort dagegen nicht.“ Das betreffe nicht nur die schwache Berliner Exportwirtschaft. Angesichts der Nähe zu Polen gehe der DGB auch davon aus, dass sich Pendler verstärkt auf die Region Berlin-Brandenburg konzentrieren. „Um Lohn- und Sozialdumping zu verhindern, legen wir deshalb besonderen Wert auf Übergangsbestimmungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit.“ Geht es nach dem DGB-Chef, sollen Polen zwischen sieben und zehn Jahre nach dem Beitritt noch immer nicht legal in Berlin arbeiten oder ihre Dienstleistungen anbieten dürfen.

Aufrechterhaltung des Grenzregimes als Abwehr gegen die erwartete „Flut“ von „Billiglohnarbeitern“ – hinter diesem Konzept versammeln sich nicht nur Gewerkschafter oder Ökonomen, sondern auch Politiker wie Eberhard Diepgen (CDU) und Manfred Stolpe (SPD). Während der Brandenburger Ministerpräsident immerhin so vorsichtig ist, keine Zahlen für die auch von ihm geforderten Übergangsfristen zu nennen, greift Berlins Regierender Bürgermeister tief ins Vokabular der Ressentiments. Erst neulich forderte Diepgen im Europaausschuss des Abgeordnetenhauses, polnischen Arbeitnehmern sieben Jahre nach Beitrittsbeginn die freie Niederlassung in der EU zu verwehren.

Eine diffuse Furcht

Der Grund: Nur so werde der ohnehin angespannte Arbeitsmarkt in Ostdeutschland nicht noch weiter belastet, und nur so könne „den sozialen Ängsten und einer diffusen Furcht vor dem Verlust von Sicherheit wegen Wegfall der Grenzen begegnet werden“.

Waren es früher die Russen, vor deren Kommen man sich fürchtete, sind es nun die Polen, Ungarn, Tschechen, Balten, Bulgaren und Rumänen. „Es wird eine Massenmigration nach Deutschland geben, noch stärker, als wir sie in den 60er-Jahren aus den Südländern erlebt haben“, prophezeite der Ökonom Hans-Werner Sinn im vergangenen Jahr der Financial Times Deutschland. Kurz zuvor hatte Sinn, der Leiter des Münchner Ifo-Instituts, eine Studie über die Wanderungsbewegungen im Zusammenhang mit der Osterweiterung der EU vorgelegt. Darin schätzte er, dass sich bis zum Jahr 2030 elf Millionen Osteuropäer in Deutschland niederlassen würden. Grund für diese Zuwanderung seien vor allem die unterschiedlichen Lohnniveaus. So kämen die ersten fünf Beitrittskandidaten Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland auf gerade mal ein Fünftel des deutschen Lohnniveaus. Bei der zweiten Beitrittsgruppe, also Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei, sei es sogar nur ein Zehntel. Bei einem freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt, so Sinn, sei es nur natürlich, dass die Osteuropäer ihre Arbeitskraft in Deutschland anbieten würden.

Zu ganz anderen Ergebnissen kommt dagegen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Im Falle eines sofortigen Beitritts aller zehn Kandidaten und der Gewährung der vollen Freizügigkeit, so das Basisszenario des DIW, würden in den ersten Jahren etwa je 220.000 Menschen nach Deutschland einwandern. Bis zum Ende des Jahrzehnts würde die jährliche Zuwanderung auf etwa 95.000 sinken. Im Jahre 2030 wäre dann mit 2,5 Millionen Migranten das Gleichgewicht von Zuwanderung und Abwanderung erreicht. Fazit des DIW: „Die Befürchtungen, dass die EU nach Einführung der Freizügigkeit mit Migranten ‚überschwemmt‘ werden könnte, sind nach diesen Berechnungen unbegründet.“

Was die beiden Prognosen unter anderem voneinander unterscheidet, ist die unterschiedliche Wertung von Migrationsbereitschaft und tatsächlicher Migration. Von den 59 Millionen Menschen, die im Baltikum, in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Slowenien leben, haben laut Umfragen zwar 4,7 Millionen ihr Interesse an einer Auswanderung nach Westeuropa bekundet. „Doch in Wirklichkeit“, meint Rainer Münz, der in der von Innenminister Otto Schily (SPD) berufenen Einwanderungskommission mitarbeitet, „sitzen die meisten keineswegs auf gepackten Koffern.“ Nur etwa 820.000 Menschen, so Münz, hätten konkretere Vorstellungen, was sie im Westen tun sollten.

Wer kommt wirklich?

Dass unterschiedliche Lohnniveaus und Migrationsbereitschaft das eine, tatsächliche Wanderung das andere sind, weiß auch Polens Vizewirtschaftsministerin Teresa Malecka zu berichten: „Ich lebe in Warschau, wo es nordöstlich und östlich der Stadt Regionen mit sehr hoher Arbeitslosigkeit gibt. Von diesen Arbeitslosen kommt aber nicht mal einer nach Warschau. Wie sollen die dann nach Deutschland kommen?“ Die flexiblen, gut ausgebildeten Arbeitskräfte, die nach Deutschland wollen, die seien doch schon längst da, legal oder illegal, meint Malecka. „Bei den Pendlern würde eine Öffnung der Grenzen doch nichts anderes sein als die Legalisierung dessen, was längst stattfindet.“

Dass auf der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerechnet die polnische Ministerin differenzierter und damit auch realistischer über die bevorstehende Migration nach Deutschland redete, ist kein Zufall. In Berlin zum Beispiel hieße eine solche Differenzierung, gleich zweierlei einzuräumen: Den Umstand anzuerkennen, dass viele Arbeitsmigranten gar nicht erst in die Hauptstadt wollen, sondern etwa nach Süddeutschland, wo es tatsächlich Aussicht auf Arbeit gibt, bedeutet nämlich, sich die miserable Wirtschaftslage der Stadt eingestehen zu müssen. Und die Wahrnehmung der Tatsache, dass Berlin Ziel vor allem polnischer Pendler ist, wäre die Zurkenntnisnahme eines Zustandes, der Berlin nicht erst bevorsteht, sondern in der Stadt längst Wirklichkeit geworden ist. Berlin ist, schon vor dem Beitritt Polens zu EU, auch eine polnische Stadt. So ist das in Grenzstädten, man muss es nur wahrhaben wollen.

Die Liste der Fakten, die man in Berlin allerdings nicht gern zur Kenntnis nehmen möchte, ließe sich ohne weiteres fortführen. So wird in der öffentlichen Diskussion gern verschwiegen, dass inzwischen Hunderttausende von Polen wieder aus Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrt sind, weil sie sich dort mehr Chancen versprechen. Und selbst die Bundesregierung tut sich schwer damit, manche Fakten zu akzeptieren.

Das betrifft vor allem die Zahl der in der polnischen Landwirtschaft Beschäftigten, die als eines der wesentlichen Migrationspotenziale gelten. Geht man in Berlin von 27 Prozent Beschäftigten in der Landwirtschaft aus, besteht man in Polen auf der Hälfte. Der Grund: Jahrelang kümmerte sich die polnische Statistik wenig um den Unterschied von Haupt- und Nebenerwerbsbetrieben. Nachdem aber das statistische Wesen Polens dem der europäischen Union angepasst wurde, musste man die Zahl, sehr zu Verwunderung auch der polnischen Regierung, nach unten korrigieren. Eine Übernahme dieser neuen Statistik in die Erweiterungsdiskussion in Deutschland hieße freilich, auch die „Migrationsdrohung“ abschwächen zu müssen. Kein gutes Argument für jahrelange Einschränkungen der Freizügigkeit.

Zweifelsohne spiegeln sich in den Forderungen nach Übergangsfristen Ängste in der Bevölkerung, auf beiden Seite der Grenze. Auf polnischer Seite fordern manche Politiker aus Sorge um einen Ausverkauf des Landes an ausländische Investoren sogar eine Übergangsfrist von bis zu 18 Jahren für den freien Erwerb von Grund und Boden.

Anders als in Polen verbindet sich in Berlin und Brandenburg die Diskussion um Übergangsfristen aber nicht mit einem offensiven Umgang mit dem Thema Erweiterung. Vielmehr scheinen die Politiker und auch die Gewerkschafter in der Hauptstadtregion eher wie die Kaninchen vor der Schlange zu stehen. Solange allerdings der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder eher als Defensivaufgabe wahrgenommen wird, solange nicht die Chancen, sondern die Risiken im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen, so lange wird sich auch an der eher skeptischen Haltung der Bevölkerung wenig ändern.

Berliner Versäumnisse

In Polen jedenfalls wächst der Ärger über diese Abwehrhaltung. Mit langen Übergangsfristen sollen die Menschen in den Beitrittsländern nun dafür büßen, dass es vor allem die Politiker in den deutschen Grenzregionen versäumt haben, sich auf die neuen Nachbarn einzustellen, schimpft etwa die polnische Vizewirtschaftsministerin Teresa Malecka. Dass es in der Vergangenheit schwere Versäumnisse gegeben hat, weiß auch DBG-Chef Dieter Scholz. Senat und Brandenburger Landesregierung hätten es verpasst, gezielt Mittel des Europäischen Strukturfonds in der Grenzregion einzusetzen. Nur so hätte man aber die Wirtschaft, vor allem kleine und mittlere Unternehmen, auf die neue Wettbewerbssituation nach einer Öffnung der Grenze vorbereiten können.

Keiner weiß dies besser als Manfred Stolpe. Als brandenburgischer Ministerpräsident verantwortlich für eine der vom Beitritt am meisten betroffenen Grenzregionen, setzt Stolpe deshalb auf neue Unternehmensstrategien. „Auch die kleinen und mittleren Betriebe“, sagt Stolpe, „müssen sich in Polen Kooperationspartner suchen.“

Ähnlich wie die so genannten Zwillingsunternehmen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze könnten dann Vorprodukte zur Fertigung nach Polen exportiert und zur Endfertigung nach Brandenburg reimportiert werden. Darüber hinaus böten Kooperationen auch die Chance, über den Partner besseren Zugang zu den jeweiligen Märkten zu bekommen. Ökonomen nennen eine solche Zusammenarbeit zum Nutzung beider Partner eine „Win-Win-Situation“.

In der Hauptstadt freilich ist man vom Denken in „Win-Win-Situationen“ noch weit entfernt. Als Teresa Malecka auf dem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung von der Realität polnischer Pendlermigration sprach, meldete sich ein Mitarbeiter der Senatskanzlei zu Wort. Er wollte wissen, ob die polnische Seite Zahlen über den Anteil Illegaler habe. Maleckas Antwort: „Schauen Sie sich doch mal hier im Saal um und fragen Sie, wer eine polnische Haushaltshilfe hat!“

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