: Verbannt und enteignet
Wenn ein Elternteil dem anderen das Kind entzieht, nennt man das unerlaubte Kindesmitnahme.Den Fall Dorcas könnte man als Kindesentziehung durch eigenmächtige Abschiebung bezeichnen
von VERONIKA KABIS-ALAMBA
Die Geschichte von Dorcas’ Ehe ist die Dreiecksgeschichte zwischen einem Muttersöhnchen, seiner Frau Mama und einer gegen diese Front chancenlose Ehefrau. Sie ist aber auch eine traurige Geschichte aus der „einen Welt“, die so eng zusammengerückt ist, in der aber die alten Machtbeziehungen überdauert haben: die zwischen Mann und Frau und die zwischen Nord und Süd. Das Ganze gestützt von einem patriarchalen, eurozentristischen Ausländerrecht.
Dorcas war 19, als sie Eric kennen lernte. Für beide sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen, sagt sie. Dorcas arbeitete damals an der Rezeption eines Hotels auf der kolumbianischen Insel Providencia, wo Eric vor vier Jahren Urlaub machte. Nach wenigen Tagen des Kennenlernens beschlossen beide, dass Dorcas nach Deutschland mitkommen sollte. Nachdem sie drei Monate lang in Erics Heimatort, dem saarländischen Ensdorf, zusammengelebt hatten, stand fest, dass sie heiraten würden. Warum der zehn Jahre ältere Eric, der so sehr an seiner Mutter hängt, keine deutsche Frau geheiratet habe, wollte Dorcas einmal von ihm wissen. „Mit deutschen Frauen kann ich nichts anfangen“, hat er zur Antwort gegeben.
Wenn sie heute mit ihren lateinamerikanischen Freundinnen, die auch mit Deutschen verheiratet waren, über ihre Ehe spricht, sieht sie manches klarer. „Die deutschen Männer glauben manchmal, wir seien wie kleine Kinder, wir hätten keine Ahnung vom Leben und könnten ohne sie nicht zurechtkommen“, so die Freundinnen heute über ihre gescheiterten Ehen. Dorcas hat dieses Gefühl der Bevormundung vor allem durch ihre im selben Haus lebende Schwiegermutter erfahren, die die ganze Familie kommandierte und ihr sogar vorzuschreiben versuchte, was sie anziehen sollte.
Im November 1999 kam der gemeinsame Sohn Hans zur Welt. Es war eine schwere Kaiserschnittgeburt, Dorcas brauchte einige Zeit, um sich davon zu erholen. Sie war froh, als ihre Mutter und zwei Schwestern aus Kolumbien zu Besuch kamen, um ihr in der Anfangszeit zu helfen. In dieser Zeit verstärkte sich das ungute Gefühl ihrer Schwiegermutter gegenüber, die das Kind am liebsten für sich allein haben wollte, während Eric sich kaum um den kleinen Hans kümmerte. Irgendwann äußerte die Schwiegermutter dann die Idee, Dorcas solle ihre Mutter und ihre Schwestern zurück nach Kolumbien begleiten und sich drei Wochen dort erholen; auch der Arzt habe ihr doch Urlaub empfohlen. Dorcas war einverstanden, wollte ihr Baby jedoch mitnehmen. Es sei noch zu klein, wiegelte Eric ab, sie solle sich keine Sorgen machen, es sei ja nur für ein paar Wochen. Dorcas ließ sich überreden, denn bis auf die üblichen Konflikte, wie sie stressbedingt in der ersten Babyphase auftreten, hielt sie ihre Ehe für intakt.
Am 30. Januar flog Dorcas schließlich mit ihren Angehörigen nach Kolumbien. Von dort aus rief sie oft in Ensdorf an, um sich nach ihrem Kind zu erkundigen. Sie wunderte sich, dass ihr Mann nie ans Telefon ging und stattdessen nur ihr Schwiegervater mürrisch Auskunft gab, dass es Hans gut gehe. Nach und nach wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte, und so beschloss sie, früher als geplant zurückzufliegen. Als sie ihr Ticket im Reisebüro abholen wollte, stellte sie entsetzt fest, dass von Deutschland aus jemand den Rückflug längst storniert hatte. Verzweifelt versuchte sie wieder, Kontakt zu ihrem Mann aufzunehmen, und als sie ihn endlich am Telefon hatte, musste sie sich anhören, dass er sie nicht mehr liebe und er und seine Mutter glücklich seien, allein mit dem Kind. „Du kommst hier nicht mehr rein“, waren seine letzten Worte, bevor er auflegte.
Für Dorcas brach eine Welt zusammen. Sie wollte sofort zurück nach Deutschland, konnte jedoch das Geld für das Ticket nicht aufbringen. So sammelte denn ihre Familie Geld, die Nachbarin gab etwas dazu, sogar der Bürgermeister ihrer Heimatgemeinde. Als sie schließlich nach insgesamt vier Monaten ins Saarland zurückkam, stand sie vor verschlossener Tür. Ein paar Tage lang kam sie bei Bekannten unter, dann ging sie in ein Frauenhaus. Mit Hilfe ihrer Anwältin und engagierten Freunden gelang es ihr erst nach und nach, herauszufinden, was in ihrer Abwesenheit passiert war. Die Inhaberin des Reisebüros bestätigte, dass ihr Mann nur drei Tage nach ihrer Abreise den Rückflug storniert habe. Bei der Ausländerbehörde erfuhr sie, dass sie abgemeldet worden sei. Das Familiengericht teilte mit, dass ihrem Mann das vorläufige Sorgerecht zugesprochen worden sei, weil er angegeben habe, Dorcas habe ihn und das Kind mutwillig verlassen und befinde sich nicht mehr in Deutschland.
Für die junge Frau begann ein langer Weg durch die Instanzen, und ob sie am Ende gewinnen wird, ist heute mehr als fraglich. Das Familiengericht hat inzwischen zwar aufgrund der Beweislage anerkannt, dass Dorcas einer Intrige ihres Mannes und seiner Mutter zum Opfer gefallen ist und diese falsche Angaben gemacht haben; gleichzeitig aber hat es festgestellt, dass durch die Trennung von der Mutter Fakten geschaffen wurden, die so einfach nicht umzukehren seien. Das einzige Zugeständnis nach monatelangem Streit war die Erteilung des gemeinsamen Sorgerechts, das zumindest die Gefahr einer drohenden Abschiebung vorläufig gebannt hat. Einige Wochen lang durfte Dorcas ihr Kind einmal pro Woche in den Räumen eines Wohlfahrtsverbandes sehen. Die Großmutter brachte das Kind, das inzwischen „Mama“ zur Oma sagt, jeweils für zwei Stunden dorthin.
Aufgrund der langen Trennung reagierte der kleine Hans jedoch verunsichert auf seine Mutter und weinte bei jeder Begegnung. Anlass für die Mitarbeiterin der Beratungsstelle, eine Stellungnahme an das Gericht zu formulieren, in der sie vorschlug, den Kontakt vorläufig zu unterbrechen, bis das Kind „kognitiv in der Lage sei“, das Geschehene zu verstehen. Das Gericht wäre diesem Vorschlag gefolgt, hätte Dorcas’ Anwältin nicht massiv interveniert.
Wie in vielen anderen Fällen von Kindesentziehung spielt die Zeit gegen Dorcas. Die Gerichte vertreten in der Regel den Standpunkt, das Kindeswohl sei gefährdet, wenn das Kind nochmals aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen werde. Der Elternteil, der das Kind unrechtmäßig an sich genommen hat, trägt dann den Sieg davon.
Die Freiburger Psychologin Ursula Kodjoe kritisiert diese Praxis. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem so genannten „Parental Alienation Syndrome (PAS)“ oder „Eltern-Kind-Entfremdungs-Syndrom“, das durch Manipulation durch einen Elternteil in Trennungssituationen erzeugt wird. Sie ist der Meinung, dass in Fällen wie dem von Hans und Dorcas der Entfremdungsprozess, der durch Vater und Großmutter willentlich betrieben wurde, unter Berücksichtigung der bestehenden Bindungen rückgängig gemacht werden muss – und kann. Dazu reiche es aber nicht aus, wenn die Mutter das Kind lediglich einmal die Woche sehe. Kinder bis sechs Jahre definierten Beziehungen über das Tun. Statt den Kontakt, wie vorgeschlagen, abzubrechen, müsse er intensiviert werden, und die Mutter müsse Gelegenheit bekommen, ihr Kind allein zu sehen, zu füttern, zu wickeln, in den Schlaf zu wiegen. Nur durch einen solchen Wiederaufbau der Mutter-Kind-Beziehung könne eine spätere Identitätskrise des Kindes vermieden werden. Gerade für das binationale Kind sei dies wichtig, da es sonst die Herkunftskulturen seiner Eltern und nicht zuletzt sein Aussehen später nicht als Reichtum, sondern im Gegenteil als Verarmung und Verunsicherung empfinden werde.
Dorcas’ Anwältin Annette Gieseking hat das Gericht gebeten, ein Gutachten über diese Fragen erstellen zu lassen. Nachdem aber deutlich wurde, dass ein solches Gutachten mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nehmen würde und Dorcas in dieser Zeit das Kind nicht zu Gesicht bekäme, hat sich auch dieser Weg als Sackgasse erwiesen. Für die Anwältin ist der eigentliche Skandal, dass ein Elternteil sich hier mit Hinterlist in eine nahezu unangreifbare Rechtsposition gebracht hat.
Dorcas erlebt das, was ihr in den letzten Monaten widerfahren ist, wie einen Albtraum. Als sie ihren Mann bei der letzten Gerichtsverhandlung sah, war er nervös und wagte nicht, sie anzusehen. Noch immer hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es eines Tages endlich zu einer Aussprache zwischen ihnen kommt, ohne dass seine Mutter dazwischen steht. Sie möchte wenigstens begreifen können, weshalb die beiden ihr das angetan haben. Ihr Vertrauen in die deutsche Justiz hat gelitten. Sie versteht nicht, wie es sein kann, dass das offensichtliche Unrecht, das ihr und ihrem Kind geschehen ist, ungesühnt bleibt. Und über all dem schwebt noch immer das Damoklesschwert des Ausländerrechts, wonach ihr der weitere Aufenthalt in Deutschland verweigert werden kann, falls das gemeinsame Sorgerecht irgendwann einmal zurückgenommen werden sollte. Manchmal ist Dorcas der Verzweiflung nahe; nur die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder mit ihrem Kind zusammenleben kann, hält sie aufrecht. Ihre Namenspatronin, die heilige Dorkas, so erzählt sie, wurde nach ihrem Märtyrertod zum Leben auferweckt. Dorcas wäre schon mit einem kleineren Wunder zufrieden.
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