: Für 15 Minuten berühmt
Die jugendlichen Mörder an Amerikas Schulen suchen Beachtung in einer weitgehend anonymen Welt. Ihre Taten werden durch den Waffenmythos in den USA erst möglich
„March Madness“ nennen die US-Amerikaner jene Wochen im März, in denen die Colleges und Universitäten in einem landesweiten Wettbewerb ihre Basketballmannschaften gegeneinander antreten lassen. Das wochenlange Turnier ist eine einzige exposure-Veranstaltung, auf der sich die College-Studenten für höhere Aufgaben empfehlen. Bisher nur Kennern bekannte junge Spieler stehen nun auf der Bühne. Sie wollen gesehen werden und auf sich aufmerksam machen, möglichst von den gut bezahlenden Proficlubs entdeckt werden. Wer in den sportverrückten USA aus der Namenlosigkeit zur Berühmtheit aufsteigen will, für den ist Auffallen bei diesem höchst populären Turnier das Mittel der Wahl. Die celebrity, die hier entsteht, ist harmlos, sie bildet sich im nationalen Konsens darüber, dass auch im Sport ein jeder seines Glückes Schmied ist. Auf diesem Feld ist der pursuit of happiness – also jenes in der Verfassung so prominent verankerte Glücksstreben – nur zu verwirklichen, wenn es gelingt, die mediale Aufmerksamkeit zu fesseln.
Ganz und gar nicht harmlos ist ein neueres Spiel um Berühmtheit, das sich anderer Waffen bedient als die Basketballer, aber in diesem Jahr ebenfalls im „verrückten“ März seinen Siedepunkt erreichte – als ob es sich um eine konkurrierende Alternativveranstaltung handelte. Highschool-Shooting nennt sich diese kranke Version der mörderischen Selbstfindung. Sie gehört zu jener neuen Verbrechenskategorie, die in den USA unter der treffenden Bezeichnung des rampage killing berüchtigt geworden ist. Buchstäblich im Rampenlicht wird in vielen Fällen völlig wahllos auf andere geschossen. Es ist jene Art öffentlichen Mordens, bei der die klassischen Motive kriminellen Verhaltens weitgehend überdeckt sind von der alles beherrschenden Sucht, gesehen zu werden, Beachtung zu finden und Aufmerksamkeit zu erregen. Dieser neue Typus von Verbrechen, von einem pathologischer Narzissmus gespeist, braucht das reflektierende Licht der Öffentlichkeit.
Die New York Times hat bereits im letzten Jahr 100 solcher Fälle untersucht: 20 davon ereigneten sich an Schulen, 11 in Restaurants, 32 am Arbeitsplatz. 425 Menschen wurden dabei getötet; die Täter waren mit Ausnahme von drei Fällen Einzeltäter, ein Drittel war psychiatrisch auffällig. Wie beispielhaft beim Columbine-Highschool-Massaker vor zwei Jahren, bei dem 13 Schüler in einer zum Teil vom Fernsehen live übertragenen Schießerei ihr Leben verloren hatten, werden diese Taten meist am helllichten Tag und gelegentlich nach protzenden Ankündigungen, immer unter der Anteilnahme von Zuschauern und möglichst bei laufenden Kameras, begangen und enden regelmäßig mit einem spektakulären Shoot-out. Die Täter bleiben stets am Schauplatz; sie machen keinen Versuch, zu entkommen. Die narzisstische Inszenierung befriedigt offenbar ein drängendes Bedürfnis, in einer weitgehend anonymen Welt selbst einmal Bedeutung zu erhalten.
Die aktuelle Serie von Highschool-Shootings begann in der ersten Märzwoche. Ein 15-Jähriger erschoss in seiner Schule bei San Diego zwei Mitschüler und verwundete mehrere andere. „It’s only me!“, bekannte der Täter, als er schließlich gestellt wurde. Angesichts der Polizei- und Medienpräsenz und der über dem Tatort kreisenden Hubschrauber war dem Sheriff bei der Verhaftung aufgefallen, dass der Junge offensichtlich sein Vergnügen hatte: „He was . . . not unhappy with the celebrity he was receiving.“ Die Nachahmer warteten nicht lange; allein in Kalifornien wurden in den folgenden Tagen 16 weitere Schüler wegen Waffentragens oder der Androhung von Waffengewalt in der Schule verhaftet. Über 20 Prozent der Jungen waren letztes Jahr schon einmal bewaffnet zur Schule gegangen – aber nicht nur sie: Ein paar Tage nach den März-Shootings nahm ein Mädchen der achten Klasse in Pennsylvania eine Gedenkfeier für die Opfer zum Anlass, auf eine Mitschülerin zu schießen.
Das pathologische Muster medial vermittelter Identitätsbildung wird in den USA durch den Waffenmythos gefördert, der im kollektiven Ich-Ideal der Nation tief verankert und mit der Idee gewalttätiger Selbstverteidigung eng verbunden ist. Noch die staatlichen Gegenmaßnahmen atmen diesen Geist: Inzwischen hat die nicht abreißende Serie von Amokläufen an Schulen zu einer drakonischen Verschärfung des Jugendstrafrechts geführt, die gerade – hierzulande undenkbar – zwei 14- bzw. 15-jährigen Tätern in Florida wegen Mordes lebenslange (!) Haftstrafen eingebracht hat, die sie in Gefängnissen für Erwachsene absitzen sollen. Unter dem Protest der Öffentlichkeit sieht sich Jeb Bush, zuständiger Gouverneur und Bruder des Präsidenten, nun genötigt, über eine Umwandlung der Strafen nachzudenken, die doch der von ihm selbst ausgerufenen „get tough-campaign on teen violence“ entsprechen. George W. selbst, der seinen Wahlsieg nicht zuletzt der massiven Unterstützung durch die Waffenlobby zu verdanken hat, ist zum Thema Highschool-Shooting eingefallen, dass man den Kindern wieder beibringen müsse, was Recht und was Unrecht, was gut und was böse sei.
Rampage-killing kommt in Deutschland bisher nur in Einzelfällen vor, aber Spuren der gleichen reflexiven Dynamik tauchen etwa bei rechtsradikalen Gewalttaten auf. Die vor den Augen der Öffentlichkeit inszenierte Menschenjagd oder Brandstiftung, das martialische Auftreten vor laufender Kamera, der gezielte Tabubruch in Kleidung, Ausstattung und Sprache – all das lebt von der Spekulation auf das Medienecho und stiftet Identität. Das historische Kostüm des Nationalsozialismus täuscht darüber hinweg, dass es sich hier um expressive Formen der Postmoderne handelt, in denen ein vormodernes Weltbild auf die politische Bühne tritt. Die neue Rechte bedient sich bei ihrem Auftreten durchaus zeitgenössischer Kommunikationskanäle und Marketingmethoden. Allerdings ist es eher eine Gruppenidentität, ein rebellisches Gemeinschaftsgefühl, das sich in der verstärkenden medialen Spiegelung des kryptofaschistischen Vagantentums bildet. Den individuellen Akt der Selbstfindung durch narzisstisch motivierte Aggression finden wir hierzulande eher in den alltäglichen Erscheinungen der gesellschaftlichen Brutalisierung, die unter dem hilflosen Begriff der „Gewalt ohne Motiv“ zusammengefasst werden. Er verweist auf die existenzielle Ebene einer depravierten seelischen Verfassung, auf mangelnde intersubjektive Spiegelung, auf Lücken im Selbst, die durch eine spektakuläre Aktion gefüllt werden sollen. Dagegen hilft keine Verabredung der Medien, nicht mehr zu berichten, um den verstärkenden Spiegel vorzuenthalten. Sie leben schließlich vom Voyeurismus der Zuschauer, die sich ihrerseits in die Events hineinfantasieren, auch wenn ihnen der Schauder über den Rücken läuft. Die Medialisierung der Welt scheint ihren Preis zu haben, der tief in die Bedingungen der Conditio humana reicht und weit über den march madness hinausgeht. MARTIN ALTMEYER
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