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Fahr mal wieder U-Bahn – Linie 1

Heute rollt zum 1.000. Mal die „Linie 1“ über die Bühne des Grips Theaters. Hängen geblieben ist das Rockmusical irgendwo im Westberlin der 80er. Eine Konfrontation mit der Gegenwart zeigt erschreckende Ähnlichkeiten und himmelweite Unterschiede

von KIRSTEN KÜPPERS

Das sozialkritische Rockmusical „Linie 1“ wurde 1986 im Grips Theater uraufgeführt. Heute noch bieten die ausverkauften Vorstellungen einen Ausflug in das Westberlin der 80er-Jahre. Die Realität 2001 sieht oft anders aus.

Szene 1: Die Ankunft

Ein junges Mädchen aus der westdeutschen Provinz hat sich in einen Berliner Rock-Musiker verliebt. Sie flieht ihrem engen Zuhause und steigt voller Sehnsucht in den Zug nach Berlin. Früh morgens kommt sie am Bahnhof Zoo an und singt: „Ich schnapp gleich über, Mann ist das ein Gefühl.“ In der koreanischen Fassung des „Linie 1“-Musicals ist das Mädchen in einen berühmten Widerstandskämpfer verliebt.

Heute treibt eher ökonomischer Druck die jungen Mädchen in die Großstadt. Es handelt sich meist um Wirtschaftsflüchtlinge aus Osteuropa. Schließlich sind die guten Rockmusiker und Widerstandskämpfer alle tot.

Szene 2: Bahnhofshalle Zoo

In der kalten Bahnhofshalle stößt das Mädchen auf Alkoholiker, Süchtige und Querulanten. Eine Frau mit toupierten Haaren und zerronnener Schminke tritt auf. Sie spielt die „Lady“ und singt: „Tag ich hasse dich.“

Mittlerweile ist der reale Schauplatz, der Bahnhof Zoo, umfangreich modernisiert worden. Die neue Espresso-Bar dient allenfalls noch als Treffpunkt für Koffeinsüchtige. Denn die Bahn AG setzt verstärkt ihr Konzept „Sauberkeit, Sicherheit, Service“ um. Obdachlose und Alkoholiker dürfen sich nur noch auf dem Bahnhofsvorplatz aufhalten.

Szene 3: Die Suche nach Kreuzberg

Das Mädchen spricht verloren die vorbeihuschenden Passanten an: „In Kreuzberg wohnt mein Märchenprinz. Wo geht es hier nach Kreuzberg?“

Heute müsste die korrekte Antwort lauten: „Nirgendwo.“ Im Zuge der Vereinigung des Ost- und Westberliner U-Bahnnetzes fährt die Linie 1 seit 1993 nicht mehr über den Bahnhof Zoo. Der „Linie 1“-Autor Volker Ludwig sagt, er habe die Handlung nach der Wende „bewusst nicht aktualisiert“. Gestrichen wurden lediglich Textstellen, die direkt auf alte Mauerzeiten hinwiesen, wie „Warste schon mal drüben? Mach das! Da kannste was lernen. Da können sich die Leute noch zuhören.“ Schließlich gilt auch diese Behauptung längst als überholt.

Szene 4: Die erste Fahrt mit der U-Bahn

Das Mädchen betritt laut und fröhlich den U-Bahn-Waggon: „Guten Morgen!“ Die Fahrgäste schweigen schlecht gelaunt. Manche Dinge dauern für die Ewigkeit.

Szene 5: Endstation Schlesisches Tor

Der Rockmusiker hat dem Mädchen eine falsche Adresse gegeben. Enttäuscht schleicht sie zurück auf den Bahnsteig der Endstation. Dort singen ihr einige Punker zum Trost ein Lied: „Wenn die dicke, fette Liebe erwacht, dann mach ’ne Flocke! Gib Socke, ey!“

Gutmütige Punker haben schon vor Jahren die U-Bahnsteige verlassen und putzen stattdessen Autoscheiben. Und wer die alten Trostlieder sucht, ist orientierungslos. Denn längst endet die U-Bahn-Linie 1 nicht mehr am Schlesischen Tor, sondern fährt weiter nach Friedrichshain.

Szene 6: Die lange Rückfahrt zum Zoo

Auf der Fahrt zurück zum Bahnhof Zoo gerät das Mädchen in eine Fahrkartenkontrolle, es folgt der berühmte „Kontroletti-Tango“. Später steigt auch ein „Verwirrter“ zu. Sein zivilisationskritischer Text lautet: „Wir alle wissen, dass die Welt von Idioten regiert wird. Die Wähler sind Opfer einer Verbrecherclique, die mit Hilfe des CIA durch Strahlen aus dem Weltall die Gehirne der Menschen zersetzt.“

Ein Blick auf den Berliner Senat gibt dem Mann Recht. Auch die Preispolitik der BVG ist längst nicht mehr nachvollziehbar. Das Grips Theater bemüht sich immerhin in diesem Punkt, mit der Gegenwart Schritt zu halten. In den ersten Textfassungen des Musicals kostete ein Fahrschein 2,20 Mark, inzwischen 4 Mark wie im richtigen Leben.

Szene 7: An der Imbiss-Bude

Das Mädchen bekommt von einem Zuhälter Schlaftabletten in den Kaffee geschüttet. Sie flüchtet wieder in die U-Bahn.

„Schlaftabletten entsprechen in der Realität sicherlich nicht mehr der gängigen Form der Prostituiertenanwerbung“, meint ein Polizeisprecher. Inzwischen würden Prostituierte vornehmlich in Osteuropa rekrutiert.

Szene 8: Der Traum

Zwei Straßenmusikanten singen das Lied „Fahr mal wieder U-Bahn.“ Unterstützt werden sie von der Band mit dem interessanten Namen „No Ticket“, die seit der Uraufführung für die Musik der „Linie 1“ zuständig ist.

Seit je ist das Musizieren in Berliner U-Bahnen verboten. Und seit den 80er-Jahren schwinden dort auch die illegal singenden Musiker. Zugenommen hat dafür der Singsang der Motz-Verkäufer. „Die Gründe für diese Entwicklung sind unklar“, sagt eine BVG-Pressesprecherin.

Szene 9: Erwachen in der U-Bahn

Vier reaktionäre alte Damen in Persianermänteln schrecken das Mädchen aus dem Schlaf: „Mit Gott und Diepgen im Verein wird Groß-Berlin die Weltstadt sein, teräa, teraä, teräa.“

Das Lied „Wilmersdorfer Witwen“ gehört inzwischen zum festen Programm von Berliner Straßenfesten, Abiturfeiern und CDU-Landesparteitagen.

Szene 10: Zwischen U-Bahnhof Hallesches Tor und Gleisdreieck

Mit der Ballade vom „Unbekannten Mädchen“ thematisiert das Musical die Anonymität in der Großstadt.

Die hat seit der Wiedervereinigung eher noch zugenommen. Viele Berliner halten darum an Gewohntem fest. „Wir haben Fans, die haben das Stück über 50 Mal gesehen“, erzählt der Autor Volker Ludwig.

Szene 11: Der Selbstmord

Die Punkerin „Lumpi“ wirft sich vor die U-Bahn.

„Auf den U-Bahn-Anlagen beläuft sich die Zahl der Suizidversuche mit Todesfolge seit Jahren konstant auf 15 bis 20 pro Jahr“, sagt die BVG-Pressesprecherin.

Szene 12: Vom Gleisdreieck zum Bahnhof Zoo

Alles scheint hoffnungslos. Das Mädchen hat erfahren, dass ihr Rockmusiker mit einer reichen Immobilienmaklerin liiert ist. Ein fremder Junge mit Schlapphut, der das Mädchen seit dem Morgen verfolgt, singt das Lied „Mut zum Träumen“.

Heute würde der Musiker vermutlich das Bundesverdienstkreuz bekommen. Im Gegensatz zu den 80er-Jahren sind Schlapphüte heute bei jungen Menschen ausgesprochen unmodern.

Szene 13: Happy End in der Bahnhofshalle Zoo

Der Rockmusiker versucht, das Mädchen zurückzugewinnen. Sie entscheidet sich indes für den Jungen mit Schlapphut. Die beiden singen das Duett: „Bitte halt mich fest“. Über dem glitzernden Sternenhimmel geht groß und rot die Sonne auf.

Bisher haben an dieser Stelle noch bei jeder Vorstellung die Zuschauer Wunderkerzen angezündet. In der Hauptstadt der Alleinstehenden sind die Menschen immer noch dankbar für ein wenig beruhigende Romantik.

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