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Atmosphäre des Schreckens

Mit „Backing Hitler“ liefert Robert Gellately eine Variante von Goldhagens These der „willigen Vollstrecker“ – nicht so anschaulich, aber mit erheblich mehr Belegen. Dennoch irrt auch er sich

Gerade weil das Foltern und die Morde bekannt waren, schüchterten sie die Deutschen ein

von RICHARD J. EVANS

Vor einigen Jahren wurde ich zu einer öffentlichen Diskussion mit Daniel Jonah Goldhagen nach Hamburg eingeladen. Soeben war sein Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ herausgekommen, und er befand sich auf einer Veranstaltungsreise durch Deutschland. Aufgrund früher eingegangener Verpflichtungen konnte ich nicht an der Diskussion teilnehmen, und darüber bin ich inzwischen froh. Verschiedene Teilnehmer an diesen Debatten berichteten mir später, es habe sich schon fast um eine Art Erweckungsveranstaltungen gehandelt, bei denen das Massenpublikum Goldhagens schwungvoll vorgetragenen Thesen zujubelte. Die Zweifel und Differenzierungen der anderen Teilnehmer, vorwiegend deutscher Professoren, wirkten in dieser Atmosphäre bestenfalls als pedantische Nörgelei oder in manchen Fällen sogar als Entschuldigungen für das Verhalten des deutschen Volkes im „Dritten Reich“. Viele der geäußerten Zweifel hielt ich damals für berechtigt und tue das auch heute noch.

Goldhagen verurteilte das gesamte deutsche Volk, als sei es seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert vom Antisemitismus besessen gewesen und habe nur danach gelechzt, alle Juden umzubringen. Hitler habe also die Deutschen lediglich von der Kette gelassen: den Rest hätten sie selbst besorgt. Damit wird er den Millionen Kommunisten und Sozialdemokraten, die vor 1933 den Antisemitismus ablehnten, wohl kaum gerecht, und zudem unterschätzt er um einiges Hitlers Charisma, mit dem er nach diesem Zeitpunkt auf die Dinge einwirkte.

Am eindrucksvollsten war Goldhagen nicht so sehr in seiner Erklärung des Antisemitismus in Hitlers „Drittem Reich“ und zuvor, als vielmehr in seiner bildhaften und überzeugenden Schilderung der Art und Weise, wie der Antisemitismus sich im nationalsozialistischen Deutschland äußerte. Meiner Meinung nach fand Goldhagen weder eine überzeugende Erklärung für die Motive der Täter, die sich an den mörderischen Scheußlichkeiten des „Dritten Reiches“ beteiligten, noch für die Haltung der Menschen, die ihnen passiv zusahen oder in vielen Fällen begeistert zujubelten. Er warf jedoch viele beunruhigende Fragen auf, die auch jene bewegten, die seiner Gesamtthese nicht zustimmten.

Robert Gellately ist kein Goldhagen. In „Backing Hitler“ wird der Leser keine anschauliche Beschreibung von Scheußlichkeiten finden. Aber im Effekt bietet sein Buch eine nuanciertere und differenziertere Version der gleichen These. So bestreitet Robert Gellately zwar Goldhagens Ansicht, dass sich die Deutschen in ihrer Begeisterung für Hitler und das nationalsozialistische Regime von Antisemitismus leiten ließen. Zu ihrer Unterstützung des „Dritten Reiches“ seien sie durch viele verschiedene Faktoren motiviert gewesen. Mit Goldhagen liegt er jedoch auf einer Linie, wenn er meint, dass die Deutschen tatsächlich hinter Hitler standen und dass die übergroße Mehrheit der Menschen zahlreichen der brutalsten und mörderischsten Handlungen des „Dritten Reiches“ Beifall zollte.

Gellately ist in Sachen Nationalsozialismus ein ausgewiesener Experte und schrieb vor gut zehn Jahren eine bahnbrechende Studie über die Gestapo. In diesem Band demonstrierte er mit einer Fülle detaillierten Beweismaterials, dass die politische Polizei im nationalsozialistischen Deutschland weit davon entfernt war, Hitlers Stasi zu sein. Sie hatte keineswegs Agenten in jedem Winkel des Landes, im Gegenteil, sie musste mit recht wenigen Mitarbeitern auskommen und ging vor allem den Hinweisen gewöhnlicher Deutscher nach, die ihre Mitbürger denunzierten oder Verbrechen, Fehlverhalten und oppositionelle Akte meldeten. Auf dieser früheren Arbeit baut Gellatelys „Backing Hitler“ nun auf. Es ist eine Darstellung des Unterdrückungsapparats der nationalsozialistischen Diktatur – der Polizei, der Konzentrationslager und des Rechtssystems. Dagegen setzt es sich nicht mit dem gewaltigen und ausgeklügelten Propagandaapparat von Hitlers Gefolgsmann Joseph Goebbels auseinander, den man für die wichtigste Waffe des Regimes halten könnte, um die Deutschen zur Unterstützung Hitlers zu bewegen. Für Gellately bedeutet „Unterstützung Hitlers“ etwas anderes.

Er beschreibt daher detailliert, wie die Nationalsozialisten zunächst gegen die Kommunisten vorgingen und in der Öffentlichkeit breiten Rückhalt für die Art und Weise gewannen, in der sie dabei das Gesetz beugten oder umgingen. Darauf bauten sie auf, um sich öffentliche Unterstützung für den Kampf gegen andere unpopuläre Minderheitsgruppen zu verschaffen – „Asoziale“, „Berufsverbrecher“, „Zigeuner“, Homosexuelle und endlich die Juden. Für sich genommen ist diese These vielleicht nicht so besonders neu: Schließlich hatte Martin Niemöller schon vor langer Zeit auf diese Schritt-für-Schritt-Methode hingewiesen („Zuerst holten sie die Kommunisten, aber ich war kein Kommunist – also tat ich nichts. Dann holten sie die Sozialdemokraten, aber ich war kein Sozialdemokrat – also tat ich nichts“, und so ging es weiter, bis zu dem berühmten Schluss: „Als sie dann mich holten, war niemand mehr da, der für mich hätte eintreten können.“) Bei jedem einzelnen Schritt, darauf beharrt Gellately, genossen die Maßnahmen der Nationalsozialisten die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes. Mit einer Vielzahl von Belegen stellt er dar, dass die Unterdrückungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Staates keineswegs bewusst verheimlicht, sondern von Goebbels Propagandaapparat so laut hinaustrompetet wurden, dass niemand über die Vorgänge im Unklaren bleiben konnte. Dazu gehörte auch der Massenmord an den Juden in den Todeslagern des Ostens. Das Regime verschaffte sich Unterstützung, indem es gegen Minderheiten vorging, die von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung bereits abgelehnt wurden. All das ist sehr überzeugend. Aber hat Gellately wirklich nachgewiesen, dass die Unterdrückung sich vorwiegend auf Minderheiten beschränkte und dass die Bevölkerungsmehrheit die Maßnahmen des Regimes jederzeit billigte? Hier wird seine Argumentation meiner Meinung nach allzu überschwänglich und widerspricht sich bis zu einem gewissen Grad sogar.

Gerade weil die Konzentrationslager, die Prügelorgien, das Foltern und die Morde so allgemein bekannt waren, funktionierten sie mit Sicherheit als Mittel der Einschüchterung für gewöhnliche Bürger, die sich sonst an missliebigen Aktionen gegen das Regime hätten beteiligen können. Die neunundneunzigprozentigen Wahlsiege, die Hitler bei Wahlen und Volksabstimmungen davontrug, waren nicht Belege für die überwältigende Popularität des Staates und der Partei, wie Gellately offenbar glaubt, sondern Hinweis auf die Wirksamkeit seiner Unterdrückungsmaßnahmen in einer Situation, in der ein jeder wusste, dass die Wahlen nicht länger geheim waren. Vertrauensbekundungen gewöhnlicher Bürger können nicht wörtlich genommen werden, wenn jeder Angst davor hatte, offen zu sagen, was er wirklich dachte.

Die von den Nationalsozialisten verfolgten Minderheiten waren zahlenmäßig keineswegs so unbedeutend, wie es Gellately vermuten lässt. Schließlich gewannen Kommunisten und Sozialdemokraten bei den letzten freien Wahlen im November 1932 zusammen 13 Millionen Stimmen: das waren eineinhalb Millionen mehr als die Nationalsozialisten. Das Regime hat diese Wähler nicht in begeisterte Anhänger seiner Politik und Handlungen umgewandelt – ganz zu schweigen von den aktiven Mitgliedern der beiden Parteien der Arbeiterklasse. Gellately scheint manchmal zu vergessen, dass die Nationalsozialisten, wenn sie von „Marxisten“ sprachen, die Sozialdemokraten meinten, nicht die weniger zahlreichen Kommunisten. Seine eigenen Zahlen zeigen, dass hunderttausende wahrer und eingebildeter Regimegegner schon frühzeitig in die Konzentrationslager eingeliefert wurden und dass während des Krieges viele Menschen wegen häufig eher trivialer Verstöße oder Meinungsäußerungen eingesperrt oder hingerichtet wurden.

In den späteren Phasen des Krieges gab es ernsthafte Vorschläge, nicht nur hunderttausende, sondern Millionen sogenannter „Asozialer“ oder andere „Gemeinschaftsfremde“ umzubringen. Gellately beschreibt gut, wie das Regime in den letzten Phasen des Krieges die gesamte Macht seiner Brutalität gegen die deutsche Bevölkerung ganz allgemein richtete. Daraus zieht er jedoch nicht die offensichtliche Schlussfolgerung: dass Begriffe wie „asozial“ ebenso willkürlich waren wie die drakonischen Strafen für jeden Verstoß gegen die Regeln der Nationalsozialisten – sei es das Mithören ausländischer Radiosender oder das Zustecken einer Scheibe Brot für einen ausländischen Sklavenarbeiter. Es herrschte eine Atmosphäre des Schreckens. Und genau deshalb hatte die Mehrheit des Volkes Angst, aus der Reihe zu treten.

Robert Gellately: „Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany“. Oxford University Press, Oxford 2001, XVII + 359 pp., £ 19,99 (67,84 DM)Robert Gellately: „ Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933–1945“. Schöningh, Paderborn 1994, 78 DM

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