: „Werden uns die Menschenrechte aufgezwungen?“
Das chinesische Publikum hatte jede Menge Fragen an den deutschen Gast. Der antwortete ausführlich. Dokumentation eines kritischen Dialogs mit Jürgen Habermas
Frage: In China sagt man oft, dass der Westen China sein Menschenrechtsverständnis nicht aufzwingen darf. Was sagen Sie dazu?
Jürgen Habermas: Wir im Westen sind nicht in der Lage und haben auch nicht den Willen, Menschenrechte einer anderen Kultur aufzuzwingen. Aber die Frage ist heute nicht mehr, ob China die Menschenrechte anerkennt, sondern wie wir diese Menschenrechte verstehen.
Menschenrechte betreffen den Menschen als Einzelnen, aber auch als Gemeinschaft. Sind für Sie die Menschenrechte vor allem für den Einzelnen da?
Kant hat gesagt, dass man im einzelnen Menschen die Menschheit als Ganzes achten muss. In China denken Sie harmonisch und ich könnte mir auch auf diese Frage eine chinesische Antwort vorstellen, die darin besteht, dass in der einzelnen Person auch die Würde der Gemeinschaft und die Menschheit im Ganzen geachtet wird.
Sie haben von der Allgemeingültigkeit und Vernünftigkeit der westlichen Menschenrechte gesprochen. Sie meinen, dass die Marktwirtschaft von einer Rechtsordnung, die den Individualismus fördert, nicht zu trennen ist. Kann ein Land wie China nicht auch einen eigenen Weg gehen, der sich von westlichen Modellen unterscheidet?
Der Kapitalismus muss in allen Ländern keineswegs die selben gesellschaftlichen Formen hervorbringen. Schon im Westen unterscheidet sich das amerikanische Modell deutlich vom rheinischen Kapitalismus in Deutschland. Über die große kulturelle Kluft zwischen dem Westen und China hinweg wird deshalb hier mit Sicherheit eine ganz andere gesellschaftliche Form des Kapitalismus entstehen. Aber wie in diesem Prozess Tradition und Moderne versöhnt werden können, das müssen die Chinesen selbst herausfinden. Dazu kann ich nichts sagen.
Die westlichen Menschenrechtsnormen stellen für Sie die Antwort auf die Herausforderungen der Modernisierung dar. Welche Herausforderungen sind das konkret?
Ich sehe drei Herausforderungen: Die erste besteht in der Umstellung von traditionellen Gesellschaften mit lokalen Austauschbeziehungen auf den Weltmarkt. Hierfür brauchen wir neue Regeln, welche die Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit im Austausch und den Schutz persönlichen Eigentums garantieren. Die zweite Herausforderung ist der kulturelle und religiöse Pluralismus. In Europa war der Konflikt zwischen den Konfessionen besonders scharf. In China kennt man diese Schärfe religiöser Auseinandersetzung nicht. Aber auch Sie leben heute mit vielen Religionen und Kirchen in diesem großen Land. Sie leben sogar mit Sekten, was ein großes Problem ist. Die Antwort auf diesen Pluralismus ist eben die weltanschauliche Neutralität und Enthaltsamkeit der Staatsgewalt. Die dritte Herausforderung ist eine gesellschaftlich bedingte Individualisierung, die auch in China fortschreitet. Denken Sie nur an die Veränderung der Familienstrukturen. Und die Antwort darauf ist, dass jeder Person bestimmte unveräußerliche Grundrechte zugestanden werden.DOKUMENTATION: GEORG BLUME
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