: Jospin bleibt vage
Frankreichs Premierminister enttäuscht in einem Fernsehauftritt linke Erwartungen. Lob kommt von rechts
PARIS taz ■ Im Land herrscht sozialer Unmut wie lange nicht mehr. Er drückt sich aus in Streiks, einem Verbraucherboykott und zuletzt auch in einer soliden Ohrfeige der Wähler für die Parteien der rot-rosa-grünen Regierung. Aber der sozialistische Premierminister ist mit seiner Bilanz nach dreieinhalb Jahren zufrieden. In einem Fernsehinterview verwies Lionel Jospin am Dienstagabend auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit und das in Westeuropa beispiellose Wirtschaftswachstum. Die erwarteten konkreten Zusagen – von einer Anhebung der Mindestlöhne bis hin zu einem Verbot von Entlassungen – machte er nicht.
„Entweder er ist taub, oder er will nicht verstehen“, kommentierte der Fraktionschef der mitregierenden Kommunisten, Alain Bocquet, gestern den lang erwarteten Fernsehauftritt, in dem nicht auf das Verlangen nach mehr Kaufkraft, mehr Arbeitsplatzsicherheit und mehr sozialer Gerechtigkeit geantwortet wurde. Und Yves Cochet, Abgeordneter der Grünen, stellte enttäuscht fest, der Premierminister habe sowohl die erwartete „menschliche Wärme“ als auch die nötige „ökologische Sensibilität“ vermissen lassen. Lob kam bloß aus den Reihen von Jospins Sozialistischer Partei sowie aus dem Mund eines konservativen Expremierministers. Alain Juppé, der 1995 bei einem wochenlangen Streik keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt hatte, was ihn einige Monate später bei Parlamentswahlen sein Amt kosten sollte, nannte es „mutig“, ins Fernsehen zu gehen, ohne etwas Konkretes anzubieten.
Ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen war Unruhe in den Reihen der siegesgewissen rot-rosa-grünen französischen Linken aufgekommen. Neben den sozialen Protestbewegungen hatten dazu auch die Kommunalwahlen im März beigetragen, bei denen die links wählende „populäre Wählerschaft“ den Urnen massenhaft fern geblieben war. Die Koalitionspartner und einige linke Stimmen aus der PS verlangen seither „deutliche und konkrete soziale Zeichen“ von Jospin.
Doch dazu ist der Premierminister offenbar nicht bereit. Bei seinem Fernsehauftritt deutete er lediglich an, dass er und seine Mehrheit nach gesetzlichen Möglichkeiten suchten, um Entlassungen in profitablen Unternehmen „teurer“ zu machen und besser mit Sozialplänen und Reindustrialisierungsprogrammen abzufedern. DOROTHEA HAHN
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