: Letzter Ausweg: Heiligkeit
Gut, wenn der Frühling nicht kommt, dann wechseln wir eben das Leben. Werden Bademeister, schöne Dichterin, Berufsberater oder Top-Anzugsträger: Das Büro für Berufsstrategie und der Eichborn.Berlin Verlag eröffnen ihre Räume in der Oranienburger Straße. Karrierejungs treffen da auf Unberatene
von VOLKER WEIDERMANN
Und Pigor riet: Sie sollten heilig werden. Zunächst wirkten die meisten Partygäste gar nicht so, als ob ihnen der Weg ins Himmelreich sehr am Herzen läge. Doch als Pigor, der Dichter, der Kabarettist, der geborene Messdiener und Autor des Ratgeberbandes „Wie man am schnellsten in den Himmel kommt“ seine Lesung beendet hatte, da lag so ein Heiligkeitswunsch in der Luft der soeben offiziell eröffneten Büroräume von Berufsstrategie.de und Eichborn.Berlin.
Vielleicht liegt es am scheinbar dauerhaft ausbleibenden Frühling, dass in den Menschen gerade so ein Wandelwunsch zu wohnen scheint, ein Wille zur völlig neuen Lebensbahn, zur Biografie-Erneuerung. Herr Pigor hatte mit seiner Legende vom Heiligen Altan, dem unscheinbaren Bademeister des Prinzenbades, der heute als Schutzpatron der Seeleute und Rettungsschwimmer ein lockeres Leben im Himmel führt, jedenfalls den Nerv der Zuhörer getroffen.
Aber es wurden noch ganz andere Karrierestrategien an diesem Freitagabend in der Oranienburger Straße erörtert. Denn da neben Eichborn.Berlin, wo Pigors Buch erschienen ist, auch das Büro für Berufsstrategie den Umzug in die neuen Räume feierte, waren Lebenserfolgsmöglichkeiten das Thema des Abends. Das Strategie-Büro wurde von den beiden Großmeistern des Bewerbungsbuches Jürgen Hesse und Hans Christian Schrader 1992 in Berlin gegründet und vor einem Jahr von Eichborn, dem Verlag, in dem die über 80 verschiedenen Beratungsbände der beiden erschienen sind, gekauft. Eichborn suchte nach seinem Börsengang gewinnträchtige Investitionsmöglichkeiten. Das Büro der Großberater bot sich an. Berufsveränderung, Karriereberatung, Bewerbungshilfe – das ist ein Zukunftsmarkt.
In dem einen Jahr hat das Unternehmen kräftig expandiert, in Berlin arbeiten inzwischen zehn Angestellte, in der kürzlich eröffneten Frankfurter Zweigstelle sind es zwei Berater. Es kommen Berufsanfänger, Arbeitslose, unglückliche Job-Inhaber und Verbesserungswünscher zu den Beratungsgesprächen, erklärt die Leiterin des Frankfurter Büros. Die Kosten von 200 Mark pro Beratungsstunde scheinen nicht abzuschrecken. „Letztendlich rechnet sich das eigentlich immer“, sagt sie.
An diesem Abend wirkte es so, als hätte sich wohl die Hälfte der etwa 200 Gäste kürzlich recht erfolgreich manch einer Karriereplanungsstunde unterzogen: Top-Anzüge, Top-Krawatten, Top-Kleidchen, Top-Gesprächsstoffe. Die andere Hälfte wirkte eher unberaten. So dichterartig, leicht zerzaust, mäßig kostbar gekleidet, ungezwungen und gelassen. Eine sehr schöne Mischung, die nur selten lästig wurde. Als etwa, kurz nach Pigor, die wunderbare Dichterin Jenny Erpenbeck aus ihrem bald erscheinenden Erzählungsband las, da zeigten sich die Karrierejungs im Gang doch mächtig desinteressiert und unhöflich und ließen sich etwas gehen. Irgendeiner von ihnen hatte eine Büfettfrüheröffnungsstrategie angeboten. Und viele, viele hatten sich von ihm für ein kleines Sümmchen mit Erfolg beraten lassen. Die Unberatenen aßen später.
Die Mutter Jenny Erpenbecks berichtete dann im weiteren Verlauf des Abends im kleinen Kreise, dass sie bei einer früheren Lesung ihrer Tochter einmal under cover im Publikum recherchiert habe, wie der Vortrag angekommen sei. Ein frustrierter, ungedruckter Altdichter hatte über die Karrierestrategien der Tochter eine ganz eigene Meinung. „So machen’s die jungen Dichterinnen heute: schicken mäßige, kleine Manuskripte mit glänzenden, großen Ganzkörperfotos an die Verlage. Schon werden sie gedruckt.“ Dem Mann hilft da natürlich auch keine Karriereberatung. Ein guter Fotofälscher, ja – und der Erfolg kommt ganz von selbst. Wenn er Recht hat.
Wenn nicht, bleibt ihm ja immer noch Pigors Rat, der mit seinen Legenden, wie er schreibt, „überzeugende Beispiele dafür gegeben hat, dass der Himmel auch für den ziemlich durchschnittlichen Leser begehbar sein kann – wenn er denn in der Lage ist, seine ganz persönliche Art der Heiligkeit durchzusetzen“.
Das Beratungsbuch kostet 24,80 Mark. Aber Pigor macht bestimmt auch Hausbesuche. Das ist Ihre Chance.
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