: Hülle für Tschernobyl
Osteuropabank und Ukraine wollen Unglücksreaktor für 1,5 Milliarden Mark neuen Stahlmantel verpassen. Vertrag noch nicht unterschrieben
LONDON/BONN dpa ■ 15 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl soll der Unglücksreaktor eine neue, dauerhafte Stahlhülle erhalten. Dies sieht eine Vereinbarung zwischen der Regierung der Ukraine und der Osteuropabank EBWE vor. Über die Zahl der Opfer des Unglücks herrscht bei Forschern und Behörden immer noch Uneinigkeit. Der Bundesverband Bürgerinitativen Umweltschutz BBU warf der Bundesregierung vor, der Atomausstieg komme zu spät.
Eine Sprecherin der Osteuropabank sagte, die Ukraine habe zwar das grundsätzliche Einverständnis zu dem Konzept bekundet, doch: „Nichts ist unterschrieben, es muss noch verhandelt werden.“ Der nach der Katastrophe 1986 errichtete Sarkophag sei unsicher und drohe einzustürzen, teilte der deutsche Tschernobyl-Experte Dietrich Bachner von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) mit. Das EBWE-Konzept sieht den Bau einer bogenförmigen Stahlhülle mit einer Spannweite von 260 Metern, einer Höhe von 100 Metern und einer Länge von 120 Metern vor. Der neue Mantel des am 26. April 1986 ausgebrannten Reaktors solle es ermöglichen, die radioaktiven Stoffe für hundert Jahre sicher einzuschließen. Für die Schutzhülle hat die Osteuropabank rund 1,5 Milliarden Mark veranschlagt.
Eine annähernd stimmige Zahl der Opfer wird nach Ansicht von Strahlenfachleuten niemals zu ermitteln sein. Dafür fehle es an ausreichenden epidemiologischen Untersuchungen, sagten deutsche und ukrainische Forscher übereinstimmend. Die in Medien genannten Todeszahlen reichten von „tausenden“ über 30.000 bis hin zu 500.000.
In der Ukraine erhalten Familien von 15.000 verstorbenen Tschernobyl-Opfern staatliche Zuwendungen. Als am meisten strahlenbelastet gelten nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 800.000 Liquidatoren, meist junge Soldaten, die in der Sperrzone aufräumen mussten.
Die Explosion im Block 4 des AKW Tschernobyl ist unstrittig bislang der schlimmste GAU in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie. Eine detaillierte Liste der Gesundheitsschäden der betroffenen Bevölkerung gibt es bis heute nicht. Nach Einzelstudien wurden in der Ukraine, Weißrussland und Russland höhere Leukämie-Häufigkeiten und bei Kindern vor allem erhöhte Schilddrüsenkrebsraten nachgewiesen.
Der BBU beklagte, die SPD habe noch 1986 auf ihrem Parteitag beschlossen, zehn Jahre nach der Regierungsübernahme alle AKW stillzulegen. Der Atomkonsens sehe die Stilllegung des letzten Reaktors nun aber erst 2025 vor. Grüne, die 1994 den Sofortausstieg verlangten, und auch SPD hätten die Anti-Atom-Bewegung aufs Schwerste enttäuscht.
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