: Mit wie viel Jahren sprießt der Bart?
Hamburger Ärzte bestätigen Unzulänglichkeit der Alterskriterien bei Flüchtlingskindern: „Individuelle und ethnische Unterschiede sind groß“
von ANNA HOLZSCHEITER
„Keiner, weder Arzt noch Nichtarzt, kann das Alter von jungen Flüchtlingen sicher feststellen.“ Klaus-Heinrich Damm, Geschäftsführer der Ärztekammer Hamburg, stellt das gängige Verfahren der Altersbestimmung bei Flüchtlingskindern klar in Frage. Jetzt hat die Ärztekammer Hamburg in einem offenen Brief das Verfahren für unzulänglich erklärt, bei dem für Flüchtlingskinder, die ihr Alter nicht mit Dokumenten nachweisen können, ein fiktives Alter bestimmt wird. Auch die Schweizerische Asylrekurskommission hat in einer Entscheidung vom September 2000 ähnliche Einwände gegen das gängige Verfahren erhoben. Untersucht werden dabei Bart- und Schamhaarwuchs, Knochen- und Zahnwachstum und die Körpergröße. Die ärztliche Analyse wird zum Politikum, wenn bestimmt werden soll, ob der Flüchtling über 16 Jahre alt ist. Dann nämlich wird er im Asylverfahren wie ein Erwachsener behandelt und bleibt ohne Recht auf juristischen Beistand und persönliche und pädagogische Betreuung.
„Individuelle und ethnische Unterschiede sind so groß, dass eine sichere Altersbestimmung nicht möglich ist“, heißt es im Brief der Ärztekammer Hamburg. Das bestätigt auch Kurt Alt, Leiter des Instituts für Anthropologie der Uni Mainz: Zum Beispiel definiere man in Deutschland das Ende der Kindheit mit dem Durchbruch des ersten „zweiten“ Backenzahnes im sechsten Lebensjahr – bei afrikanischen Ethnien passiere das oft schon bei Vierjährigen. Alt hat selbst Untersuchungen zur Altersfeststellung von jugendlichen Straftätern durchgeführt: „Ich habe mich immer geweigert, da etwas auf Grund von Schamhaarwuchs festzulegen.“ Er habe sich in den meisten Fällen auf Röntgenaufnahmen gestützt und dennoch die Richter darauf hingewiesen, „dass das Alter des Straftäters beispielsweise zwischen 16 und 19 Jahren liegen kann“. Man könne das eben nicht mit Präzision sagen.
Es gebe zu viele Parameter, die die Entwicklung verzögern können, sagte Alt der taz, nicht zuletzt mangelhafte Ernährung und Stress. Schon seit Jahren werde an der Verbesserung und Ausweitung der Kriterien gearbeitet. Die Untersuchungen sind nicht nur ungenau: „Es ist auch entwürdigend für die Kinder, wenn ihre Geschlechtsreife untersucht wird“, betont Heiko Kauffmann, Sprecher von Pro Asyl. „Die Altersbestimmungen müssen weg, das ist eine Kopfgeburt der deutschen Bürokratie.“
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