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Atomstromer im zweiten Frühling

In Zeiten von Umweltzerstörung und Energiekrise denken viele Staaten über längere Laufzeiten und sogar AKW-Neubauten nach, allen voran die USA

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Aus den USA hört Umweltminister Jürgen Trittin derzeit nur schlechte Nachrichten. „Besorgniserregend“ findet der Grüne den neuen Trend, die Betriebsgenehmigungen von Atommeilern von 40 auf 60 Jahre zu verlängern. Bereits vier der 103 US-Meiler bekamen von der US-Atomaufsichtsbehörde eine Verlängerung genehmigt – rund 40 weitere haben bereits eine beantragt. Im Land des ersten großen Atomunfalls, 1979 im AKW Three Mile Island in Harrisburg, ist sogar wieder ein Neubau denkbar. Vizepräsident Dick Cheeny deutete erst kürzlich an: „Wer etwas gegen die CO2-Emissionen tun will, baut am besten neue Atomkraftwerke.“

Totgesagte leben länger. Vor zwei Jahren war das US-amerikanische Worldwatch-Institut noch sicher: „Ab 2002 wird die weltweite nukleare Kraftwerkskapazität wieder sinken.“ Allein in den USA würde ein Drittel der 103 Reaktoren bis 2003 vor dem Abschalten stehen, prognostizierten die Ökologen, einig mit Wall-Street-Analysten. Weit gefehlt. Viele US-Meiler werden noch eine ganze Weile am Netz bleiben.

Die Diskussion hat sich verändert, nicht erst seit Bush an der Regierung ist. Die hohen Ölpreise des vergangenen Jahres haben den Industrieländern einmal mehr gezeigt, wie abhängig sie noch immer von der Opec sind. Nun wiederholt sich die Debatte der Siebzigerjahre. Die damalige Ölkrise bescherte der Atomkraft einen Boom.

Im Jahr 2000 waren weltweit 439 Meiler in Betrieb, Tendenz leicht steigend. Die US-Energiebehörde rechnet in ihrem „International Energy Outlook 2001“ mit einem leichten Zuwachs der Atomstromproduktion: Bis 2020 immerhin acht Prozent – zum Teil durch Neubau, zum Teil durch verbesserte Auslastung bestehender Meiler. Es bauen vor allem Schwellenländer – zur Zeit 32 Reaktoren, darunter acht in China, fünf in Russland und zwei in Indien. Selbst der Iran bastelt an zwei Meilern.

Russland will hoch hinaus: 23 neue Meiler sollen bis 2020 entstehen, finanziert durch die Einlagerung internationalen Atommülls dort. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich. Insgesamt erwartet die US-Energiebehörde eine Verdoppelung der Atomkraftkapazität in den Schwellenländern bis 2020. Doch nur allzu oft gerät dort der Bau ins Stocken: aus Inkompetenz oder Finanzmangel. So brauchte Brasilien 19 Jahre, um seinen Meiler Angra 2 fertig zu stellen. Statt 1,3 Milliarden Dollar kostete er neun Milliarden. In den Industrieländern hingegen werden derzeit nur vier Meiler gebaut – alle in Japan: 13 Meiler sind bis 2010 geplant. Vor dem Unfall von Tokaimura 1999 sollten es sogar 20 sein.

Die Sicherheitsrisiken haben in Westeuropa gleich fünf Länder zum Ausstieg bewogen: Neben Deutschland sind das Belgien, Holland, Schweden und die Schweiz. Doch das fällt nicht immer leicht. In Schweden wurde die Abschaltung des zweiten Meilers Barsebäck-2 schon zweimal verschoben. Inzwischen auf nach 2003, obwohl er eigentlich schon in drei Monaten vom Netz sein sollte. Die Regierung sieht sich offiziell bislang nicht im Stande, den ausfallenden Strom sicher zu ersetzen. Finnland etwa will nun einen fünften Reaktor bauen, um sich von Stromimporten aus Russland unabhängiger zu machen.

Eine wesentliche Verlängerung der Betriebsdauer der US-amerikanischen Meiler würde den Rückgang der Atomkraft erheblich bremsen – vor allem, wenn er in an Atomkraft reichen Ländern wie Frankreich Schule macht. Die Atomaufsicht in den USA hat in den vergangenen Jahren bereits Vorbereitungen für den Neubau geleistet. So wurden die Auflagen verringert und der Genehmigungsprozess stark vereinfacht: Für mehrere Reaktortypen gibt es bereits eine generelle Vorgenehmigung.

Die Finanzkraft der bislang regionalisierten Atombetreiber in den USA ist inzwischen stark gewachsen. Nach einer Reihe von Fusionen und Übernahmen sind eine Handvoll mächtiger Konzerne entstanden. Entergy etwa will für 1,7 Milliarden Dollar 12 bis 15 Meiler zusammenkaufen. Vor zwei Jahren war es noch fast unmöglich, einen Käufer für einen alten Meiler zu finden. Seit dem Ölpreisschock und den Betriebsverlängerungen ist das Interesse an den alten Meilern neu entfacht, haben sich die Kaufsummen verzehnfacht.

Lutz Mez, Energieexperte an der Freien Universität Berlin, ist trotz dieses Kaufrausches skeptisch. „Die Konzerne halten sich vor allem eine Option offen.“ Ob sie die hohen Reparaturkosten für einen verlängerten Betrieb in Kauf nähmen, sei völlig ungewiss. „Wir haben eine Umbruchsituation“, sagt Mez, „sowohl in technischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.“ Erst in ein paar Jahren werde sich in Bundesstaaten wie Kalifornien zeigen, welche Art der Energieversorgung, ob zentral oder dezentral, und welche Energieträger sich als die wirtschaftlichsten durchsetzen.

Anhand solcher Unsicherheiten ist erst recht offen, ob wieder neue Atomkraftwerke in den USA entstehen – selbst wenn Präsident Bush, wie von der Industrie gefordert, finanzielle Anreize für den Bau gibt. Es dauert um die zwanzig Jahre, bis sich ein AKW rentiert hat. Angesichts von Liberalisierung und technischem Fortschritt ein kaum überschaubarer Zeitraum. „Die Industrie dort sieht die Atomkraft viel skeptischer als die Politik“, urteilt nicht nur Umweltminister Trittin. Klar ist aber auch: 22 Jahre nach Harrisburg und 15 Jahre nach Tschernobyl ist die Atomkraft noch lange nicht vom Tisch.

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