: „Ein Kontrast zu der Ruhe“
Eine Zugspitze in der Zeitlandschaft: Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba über den Mythos des 1. Mai, das jährliche Ritual in Kreuzberg und Innensenator Werthebach als besten Demo-Mobilisierer
Interview KATJA BIGALKE
taz: Herr Kaschuba, die Bäume schlagen aus, und diverse politische Gruppen rufen „Heraus zum 1. Mai“. Gibt es da einen Zusammenhang?
Wolfgang Kaschuba: Der 1. Mai ist ein Tag, auf dem ganz viele kulturelle Traditionen liegen. Das 19. Jahrhundert hat in vieler Hinsicht Kultur neu erfunden, weil man Angst hatte, dass Tradition verschwindet. Vieles wurde neu sortiert. Auf dem 1. Mai sammelten sich schon damals viele Termine: etwa der Ziehtag für ländliche ArbeiterInnen und Dienstboten, die an diesem Tag von einer Dienstherrschaft zur nächsten zogen. Es gab Handwerker-Traditionen und Maigerichtsverhandlungen. Sicherlich hat das auch mit dem beginnenden Frühjahr zu tun. Der 1. Mai ist so zu einem Kopplungstermin unterschiedlichster Traditionen geworden.
Warum hat sich die Arbeiter-Tradition durchgesetzt?
Weil die sicherlich die stärkste Öffentlichkeit, die einheitlichste Bewegung und die stärkste Dynamik entfaltet hat. Sie hat sehr viele andere Traditionen überformt, aber auch aufgenommen. Als die internationale Arbeiterassoziation in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts diskutierte, ob sie sich einem eigenen Tag widmen, haben sie bewusst darauf verwiesen, dass dieser Tag auch volkskulturelle Traditionen habe.
Heute ist der Tag von der rechtsextremen NPD, den Gewerkschaften bis hin zu linken Autonomen umworben. Wie können die sich alle in diesen Traditionen wiederfinden?
In der Zeitlandschaft eines Jahres ist der 1. Mai eine Zugspitze mit einer hohen symbolischen Bedeutung. Er wird von allen gerne genutzt, weil vom Durchschnittsmenschen bis zu den Medien die Ohren gespitzt und auch die Kameras gezückt sind.
Von einer politischen Botschaft kann man also gar nicht mehr reden?
Wenn man puristisch argumentieren will, ist das sicherlich nicht falsch. Aber dann würde man wahrscheinlich kaum noch einen Tag, einen Ort, einen Anlass finden, der wirklich in einem so reinen Sinne politischen Charakter hat. Der 1. Mai ist ein Mythos, verankert im kollektiven Gedächtnis. Weil es Spuren unterschiedlicher Nutzungen gibt, ist er von Bewegungen und Ideen umkämpft. So wie Weihnachten umkämpft ist von Märkten, Firmen und Kirchen. So viele Zugspitzen haben wir ja auch gar nicht in dieser Zeitlandschaft
Und diese Zugspitze kann jeder beklettern?
Das ist nicht beliebig. Man muss da schon hinpassen und kann nicht einfach den 1. Mai zum Tag der Kleintierzüchter ausrufen. Gemein ist den unterschiedlichen Sinnstiftern, dass sie eine Vorstellung von Bewegung haben. Also von einem Körper, der dadurch entsteht, dass sich Leute mit einer bestimmten Überzeugung in einer bestimmten Form draußen treffen und das dann Tradition nennen.
Auch die NPD verweist auf die Geschichte. Denn erst unter den Nationalsozialisten wurde der 1. Mai zum Feiertag.
Bewegungen nehmen immer auch Bezug auf Termine anderer Bewegungen. Das Reiben an anderen schafft Bedeutung, im Sinne einer Provokation der Symbole. Das haben die Nazis in besonders aggressiver Art getan, und das ist natürlich auch ein Motiv der NPD. Sie sucht in ihrer eigenen nationalen Geschichtsauffassung nach Begründungen. Der Nationalsozialismus hat in dieser Hinsicht wenig Eigenes geschaffen, sondern vorhandene Rituale noch einmal überhöht, verzerrt benutzt und dysfunktional gemacht.
Und welche Muster liegen der Kreuzberger „revolutionären“ Demo zu Grunde?
Der spezifische Mythos dieser Demonstration ist ein lokaler. Was da 1987 passierte [Erste Ausschreitungen, nachdem die Polizei in ein Kreuzberger Straßenfest eingriff, d. Red.], das ist schon eine kleine Mythologie der Veteranen der Bewegung. Ein bisschen davon kennen aber auch die Kids.
Ist die Radikalität der Ausdruck fehlender Homogenität?
Die Geschichte des 1. Mai ist natürlich die Geschichte der Integration einer politischen Bewegung. Das Symbol des 1. Mai hat dazu gedient, gemeinsame Ziele zu entfalten. Das waren Ziele aus dem Bereich der Arbeitsgesellschaft. Die transportiert der Tag aber heute nicht mehr, weil sie zum Teil erreicht wurden, und auch weil die Bewegung verloren gegangen ist. Es gibt zwar Elemente im kollektiven Gedächtnis, die auf dieses und jenes Bezug nehmen, aber die reichen nicht mehr aus, um Gemeinsamkeit herzustellen. Dennoch steht nicht die Gewalt im Vordergrund, sondern das Ritual, das zur einzigen Gemeinsamkeit dieses Tages wird. Altrevoluzzer wie Jungkids können sich zwar nicht mehr auf einen Weg der Gesellschaft einigen. Aber sie können sich auf einen Fluchtweg oder einen Angriff auf die Bullenwanne einigen. Der 1. Mai, ein Tag, an dem man sich ganz anders verhält als sonst. Es gibt so etwas wie eine legitime Illegalität. Das, was polizeilich verboten ist, ist an diesem Tag scheinbar verständlich oder normal.
Wodurch unterscheidet sich das von anderen Demos?
Ein normaler Demonstrationstag entsteht durch einen Konflikt in der Gesellschaft. Dann entschließt sich ein Teil dieser Gesellschaft, eine symbolische Praxis zu entwickeln, also Öffentlichkeit herzustellen. Die Form entsteht in unmittelbarem Bezug zum Anlass. Je schwieriger es wird, einen Anlass zu definieren, umso mehr gerät eine Demonstration in die Richtung, die wir gegenwärtig haben.
Wie lässt sich diese Situation soziologisch erklären?
Man beobachtet eine Fülle kleiner Rituale, die etwas von einem Rollenspiel haben. Es stellen sich Situationen her, die man aus der Jugendkultur kennt, im Sinne von Mutproben: Ich renne mal vor und dann wieder zurück. Ich probier mal, wie nah ich an die rankomme.
Das passiert doch auf jeder Demonstration . . .
. . . aber hier wirklich im Sinne von Rollenspielen, die Botschaft ist relativ beliebig. Die Kids werden angefeuert, Einzelaktionen zu starten, Steine zu werfen. Aber auch Ältere, die den Aufzug in Kreuzberg biografisch schon für eine Kontinuität halten, nehmen daran teil. Das ist auch Ausdruck ihres politischen Selbstverständnisses. Ein bisschen Polizei und ein bisschen Wasserwerfer gehören halt dazu, weil einem dadurch die politische Radikalität bestätigt wird.
In Kreuzberg ist der 1987 abgebrannte Bolle-Supermarkt zum Symbol geworden. Wie wichtig ist so ein Bild?
Zum Abbrennen des Bolleladens gehört die Erinnerung, dass Kreuzberg stundenlang autonom war. Die Polizei war draußen, und drinnen herrschte Anarchie oder Freiheit oder Chaos, wie man will.
Aber warum ist dieser Ursprung so wichtig?
Das Gründungsdatum ist umso wichtiger, je weniger eine lebendige Bewegung mit Zielen und neuen Dingen dahinter steht.
Hinter den 1.-Mai-Demonstrationen stecken aber auch reale Konflikte.
Natürlich gibt es Probleme. Zum Beispiel der Umgang mit deutscher Geschichte, oder eine Stadtpolitik, die gerade in Kreuzberg Kosten verursacht hat. Auch im Kielwasser der neuen Bundeshauptstadt bleiben Opfer zurück. All dies ist mit präsent. Aber ist gibt kaum Gruppen, die das aktiv und mit Wirksamkeit politisch formulieren könnten. Die Szenerie selber ist eigentlich eine kulturelle, eine Bewegung mit dem Muster des Straßenevents. Am 1. Mai wird ein wachsendes Ordnungsbedürfnis der Bundeshauptstadt besonders deutlich. So wird eine Art Kulturkampf ausgetragen, aber kein unmittelbar politischer Konflikt.
Dessen Botschaft ist aber nur noch schwer zu entschlüsseln.
Es ist heute das Schicksal aller sozialen Bewegungen, dass sie in gewisser Weise immer Anwaltsrollen spielen, dass sie nur vorübergehend die unmittelbar Betroffenen organisieren können. Daher wird zunächst ein Event geschaffen. Heute findet man bei vielen Bewegungen Braintrusts, die sich fragen, „wo erzielen wir Aufmerksamkeit?“ Greenpeace arbeitet nur noch so. Das diskreditiert nicht unmittelbar deren Ziele. Diese Kreuzberger Geschichte ragt da ein bisschen wie ein Archaikum in die Postmoderne hinein, in der wir uns moralisch aufregen, aber das hält nur einen Tag oder zwei. Kontinuierliche politische Arbeit ist nicht gefragt. Niemand will mehr den Vereinsmeier spielen. Dieses relativ amorphe politische Leben wird durch solche Archaika konterkariert.
Was sind denn diese archaischen Formen?
Archaisch heißt einfach, dass zwischen dem geruhsamen Biertrinken und dem Gewaltausbruch, der auch im Gefängnis enden kann, nur ein Schritt besteht, ich muss nur aufstehen. Ein Kontrast zu der Ruhe, die sonst herrscht. Wichtig ist sicherlich auch, dass der 1. Mai ein Versammlungsort von sozialen, kulturellen Bewegungen ist, die sich abgedrängt fühlen. Reste von Punk- und Autonomiebewegungen, Reste von differenten Jugendbewegungen, die sich eben nicht mehr als Bewegungen fühlen können.
Und die treffen sich zum stupiden Wiederholungsakt?
Das würde ich nicht sagen. Rituale sind kondensierte Programme, also so etwas wie der Chip im Computer, der bestimmte Abläufe in relativ kurzen Informationsschritten steuert. Aber diese Informationen sind schon vorhanden. Rituale leben zwar ganz stark von der Form. Aber wenn sie gar nichts mehr bedeuten, dann gibt es sie auch nicht mehr. Das 1.-Mai-Ritual ist nicht nur eine leere Form, sondern eine Art Erinnerungsgottesdienst an frühere Demos. Wenn es gelingt, diese Erinnerung lebendig zu halten, dann gibt es den 1. Mai auch im nächsten Jahr. Dazu ist es aber nötig, dass das Ritual nicht nur im leeren Sinne eine Form ergibt, also dass Leute einfach rumstehen. Um das Ritual mit Leben zu füllen, braucht es mindestens die Polizei.
Wieso?
Ohne Gegenüber hat der 1. Mai in Kreuzberg kein klares Programm mehr. Dieses Gegenüber, das die Berechtigung des 1. Mai scheinbar bestreitet, das die Bewegung auf der Straße scheinbar verhindern will, das scheinbar bedrohlich ist, gibt dieser Veranstaltung so etwas wie einen politischen Sinn.
Wenn die Konfrontation der Sinn des Rituals ist, nutzt dann überhaupt ein Verbot?
Rituale dieser Art haben ein erstaunlich zähes Leben. Nach unserer Erfahrung – das zeigt das ganze 19. und das ganze 20. Jahrhundert – gilt immer der Grundsatz: Traditionen werden durch Verbote geschaffen. Wenn etwas bestritten wird, wenn etwas nicht mehr genehmigt sein soll, dann sagen die Leute, „aber das sind wir doch!“ Dann wird es ein Teil der Identität einer Gruppe. Man kann das nicht einfach verbieten. Politische und kulturelle Rituale leben durch Attraktivität, sie sterben nur durch Unattraktivität. Innensenator Eckart Werthebach (CDU) hat sicherlich den attraktivsten Aufruf zur Maidemonstration geschrieben.
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