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Leben im Atlantik, am äußersten Rand

Die Hebriden sind ein Außenposten Europas im Norden Schottlands. Auf der Insel Barra geboren, verwandt und verschwägert sind vor allem die MacNeils. Ihre Blutsbande reichen nach Kanada und den USA. Abschiednehmen, um woanders besser zu überleben, ist normales Schicksal auf den Inseln

Im Gottesdienst wird bekannt gemacht, wer in Kanada oder Neuseeland verstarb

von GUNDA SCHWANTJE

Dreizehn Gestalten in winddichten Overalls, Jacken und Gummistiefeln harken, den Rücken krummgebeugt, das Watt. Als ein Geräusch aus den Wolken kommt, richten sie sich auf und schauen, auf ihre Rechen gelehnt, eine Weile in den verhangenen Himmel. Der Flieger. Er bringt Insulaner heim, Medikamente, Post. Eine Fontäne aus Wasser und Sand spritzt hoch, als die Maschine das Watt berührt und auf den Tower am Dünenrand zuhält. Ohne ein Wort sehen die Muschelsammler dem Manöver zu. Und beugen sich wieder krumm. Harken Sand.

Ebbe und Flut bestimmen den Rhythmus des Luftverkehrs von und nach Barra. Zweimal täglich steht das Rollfeld unter Wasser. Geht Wind, kommt der Flieger nicht. Wirft der Ozean Wellenberge auf die Insel, stellt auch die Fähre ihren Dienst ein. Das sind die Leute gewohnt. Wer auf den Äußeren Hebriden zu Hause ist, lebt auf einem Außenposten. Und die Propellermaschine der British Airways ist die Nabelschnur zur Welt.

Auf den weit in den Atlantik vorgeschobenen 200 Inseln im Nordwesten Schottlands organisiert das Wetter den Alltag. „Wir leben mit den Elementen, nicht gegen sie“, sagt Neil MacNeil, während er im Kaminfeuer im Wohnzimmer seines Hauses in Bruernish herumstochert. „Die See und ihre Launen muss man respektieren.“ Der 62-Jährige hat so seine Erfahrungen mit den Gales, den Stürmen. Wind, mit über 160 Kilometern pro Stunde unterwegs, ist nichts Besonderes hier auf den Western Isles am südlichen Rand des Archipels, zu dem auch Barra gehört. „Es gibt Tage“, erzählt MacNeil, ein hochgewachsener Mann mit einem Gesicht, das verrät, dass er sein Leben unter freiem Himmel verbringt, „da musst du aufpassen, dass du nicht fortgepustet wirst.“

Am äußersten Rand Europas neigt eben alles zum Extrem.

Zerklüftete Felswände halten einer machtvollen Dünung stand. Unter lautem Tosen wäscht der Atlantik die weißen Sandstrände. Wo die Erde es zulässt, ist sie mit einem Polster aus Heidekraut, Gras und Moos überzogen, ein paar Bäume ducken sich auf der der offenen See abgewandten Seite im Windschatten kahler Berge. Ein weiter Himmel ist Bühne für zauberhafte Wolkenformationen und Lichtspiele. Die Landschaft ist karg, klar und von einer bizarren Schönheit.

Nach 22 Kilometern hat man Barra auf der einspurigen Straße umrundet. Die Häuser, die entlang der schroffen Küstenlinie aufgereiht sind, halten Abstand. Vor Barra liegen kleine Inseln, hingestreut, als hätte jemand Steinbrocken im Ozean verloren. „Hauptstadt“ ist Castlebay, dort legt die Autofähre an, dort gibt es Läden für das Wesentliche und zwei Pubs. Wer mehr zum Leben braucht, muss aufs Festland oder ordert per Katalog. 1.200 Menschen bewohnen den Felsen im Meer.

Die Fischerei ist seit gut 500 Jahren die tragende Säule der Wirtschaft der Western Isles. „Hering war ein Jahrhundert lang die Einkommensquelle für die Fischer von Barra. Aber seit 1977 ist Schluss damit“, sagt Neil MacNeil. „Heute fischen wir Dorsch, Schellfisch, Garnelen und Hummer“, zählt er die Sorten auf, die bislang noch nicht Opfer der Überfischung auch durch ausländische Flotten geworden sind.

„Dass die Insel die Menschen, die hier geboren werden, nicht ernähren kann, gehört zu ihren Eigenheiten“, sagt Neil MacNeil. Der Seemann kennt die rauen Seiten des Lebens. Er ist mit seinen fünf Geschwistern auf einer Croft, einem kleinen Bauernhof, aufgewachsen, der Vater starb früh. Die Pächter kleiner Höfe, die Crofter, rangen damals dem Klima und ihren schmalen Steinäckern Kartoffeln, Getreide, Kohl und Wurzelgemüse ab.

Die meisten Insulaner sind heute Kleinbauern im Nebenerwerb, und die Nahrungsmittel kommen vom Festland. „Geld hat damals keine so große Rolle gespielt“, erzählt MacNeil. „Wir mussten zusammenhalten, um zu überleben.“

Dass Insulaner wegziehen, ist normal, 13 Prozent der Einwohner Barras sind arbeitslos. Auch Neil MacNeil verließ Barra in seinen jungen Jahren, weil es keine Arbeit gab. Die Armut war groß. „Ich bin damit aufgewachsen, Geschwister, Freunde, Nachbarn zu verabschieden“, erinnert sich MacNeil, der mit 16 Jahren auf einem Schiff der britischen Handelsmarine angeheuert hat und 20 Jahre zur See fuhr.

Im offenen Kamin des alten Backsteinhauses knackt die Glut. Neil MacNeil legt Torf nach. Torf macht zweimal warm, sagen die Leute: beim Stechen und Verbrennen. Der Brennstoff, den Jahrhunderte der Feuchtigkeit haben wachsen lassen, ist der einzige natürliche „Reichtum“ der Insel. Wenige Haushalte nutzen heute noch diese krisenfeste Energieversorgung. Torfstechen ist Knochenarbeit.

Eine Ceilidh ist anberaumt, ein Folkloreabend mit keltischer Musik. Jung und Alt haben sich im Gemeindesaal von Bruernish versammelt. Harfen, Gitarren, Akkordeons und Geigen werden ausgepackt. Vorgesungen wird reihum, so manches Lied auf Gälisch, gemeinsam jeweils der Refrain. Gegen Mitternacht nimmt eine Zweimannband auf der Bühne Platz: Im Postamt ist die Bar eröffnet, statt Briefmarken und Renten gibt’s heute Whiskey und Bier am Schalter. Fein gemachte Herren bitten die Damen zum Tanz in traditioneller Schrittfolge.

Höhepunkt des Jahres auf Barra ist das Festival keltischer Musik im Sommer. Dann reisen die Musiker von den Western Isles und dem Hochland an, auch viele Besucher. Der Sommer bringt die Insulaner ins Schwärmen von den kurzen, hellen Nächten, die für den langen Winter entschädigen. „Zauberhaft“, sagt auch Neil MacNeil. „Man streift durch die Berge, geht ans Meer. Auch die Kinder treiben sich überall herum.“ Um die Kleinen muss sich niemand Sorgen machen. „Die soziale Kontrolle ist hoch“, sagt Neil MacNeil. „Sollte irgendetwas sein, wüsste binnen einer Viertelstunde die ganze Insel Bescheid.“

Jeder kennt jeden, viele sind verschwägert. Ein Name dominiert auf Barra: MacNeil. Seit 1030 gehört die Insel diesem Clan, mit Ausnahme der Zeit von 1838 bis 1937. Clanchef Roderick MacNeil war im Jahre 1838 so verschuldet, dass er Barra samt Bewohner an Oberst Gordon of Cluny verkaufte. Dem neuen Landlord gefiel 1851 die Höhe seiner Pachteinnahmen nicht mehr, da ließ er die Crofter gewaltsam von ihren Höfen entfernen, konfiszierte Vieh und Besitz und setzte 1.500 Insulaner ohne einen Penny in der Tasche kurzerhand in der Neuen Welt aus.

„Meine Urgroßmutter kochte gerade das Mittagessen, als englische Polizisten sie vom Herd wegrissen. Sie wurde auf ein Boot geschleppt und fand sich wenig später an der Küste Kanadas wieder“, weiß Neil MacNeil zu berichten. Und die Art, wie er erzählt, macht deutlich, dass die Zeit der Unterwerfung Schottlands durch die Engländer sein Verhältnis zu den Nachbarn im Süden nachhaltig geprägt hat. „Dass Menschen Barra gegen ihren Willen verlassen mussten“, meint er, „hat die Bindung an die Insel und untereinander gestärkt. Im Gottesdienst wird heute noch bekannt gemacht, wenn jemand in Neuseeland, Australien und Kanada gestorben ist. Leute aus Übersee lassen sich hier beerdigen, und so mancher Tourist ist ein MacNeil auf der Suche nach seinen Wurzeln.“ 1937 hat Robert MacNeil, US-Bürger und 45. Stammesoberhaupt, Barra zurückgekauft. Wenn heute sein Sohn zu Besuch ist, residiert er standesgemäß in der historischen Festung im Hafen von Castlebay.

Dort hat inzwischen die Moderne Einzug gehalten. In Castlebay sitzt Jessi MacNeil in ihrem Containerbüro und denkt über die Zukunft nach. „Development of Community Help and Service“, heißt es auf dem Schild neben der Eingangstür. „Bislang müssen die jungen Leute die Insel verlassen, wenn sie studieren wollen. Das ändern wir jetzt“, sagt die resolute Mittfünfzigerin. Im winzigen Nebenraum hocken zwei Menschen vor dem Fernseher und hören eine Vorlesung der University of Highlands and Islands. Die beiden studieren Rural Development, Entwicklung des ländlichen Raums, im dritten Semester. Per Videokonferenz, Internet, E-Mail und Fax. Die Professorin, die die Vorlesung hält, sitzt auf der Insel Lewis. Weitere Inseln und Orte auf dem Festland sind zugeschaltet.

„Per Video zu studieren, war für alle Beteiligten zunächst gewöhnungsbedürftig“, berichtet Jessi MacNeil von den Erfahrungen mit den neuen Technologien. „Und nach wie vor ist die Optimierung der Lernsituation ständig Thema.“ Sie hofft, dass Internetarbeitsplätze gut ausgebildeten Insulanern schon bald ermöglichen könnten, auf Barra zu bleiben. Weitere Chancen sieht sie im Tourismus. „Wir könnten Reisen anbieten, die sich mit unserem keltischen Erbe befassen und Gälischsprachkurse.“Auch könnte Jessi MacNeil sich vorstellen, dass die Abgeschiedenheit Barras auf gestresste Städter wie ein Lockruf wirken könnte, auf Barra Aktivurlaub zu machen.

Die Flut drängt herein. Der Flieger wendet an der Wasserkante weit draußen im Watt, nimmt Anlauf gegen den Wind und Kurs auf Glasgow. Dreizehn Menschen stehen, auf ihre Rechen gestützt, im Nassen und betrachten das Manöver. Kaum ist die Maschine hinter den dicken Wolken verschwunden, bücken sich die Muschelsammler wieder, durchkämmen das Watt, ernten.

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