piwik no script img

In der Hyper-Factory

2002 bekommt Paris mit dem „Palais Tokyo“ eine neue Halle für zeitgenössische Kunst. Mit Nicolas Bourriaud und Jérôme Sans wird dabei erstmals ein französisches Museum von unabhängigen Ausstellungsmachern geleitet. Die Pariser Kunstszene richtet sich sich auf Öffnungszeiten bis Mitternacht ein

Keine Kontemplationen, sondern möglichst dichte Kontakte zwischen Kunst und Lebenswelt

von ELENA SOROKINA

Noch sehen die Räume mitten im schicken und bürgerlichen 16. Arrondissement aus wie eine Baustelle. Im Laufe des Jahres soll dort für Paris allerdings der Hotspot in Sachen Kunstschauplätze entstehen. Der mehrstöckige rechte Seitenflügel des 1937 zur Weltausstellung erbauten Palais de Tokyo ist noch nicht eröffnet, gilt aber schon als Hoffnungsträger für aktuelle Kunst in der französischen Metropole und als ihre Rettung aus dem Antiquitätenladen-Dasein. Frankreich kann forsche Wirtschaftszahlen vorweisen, aber bei zeitgenössischer Kunst schaut man immer noch nach London oder New York. Die üppige wie verstaubte Pariser Museumslandschaft ist zu traditionell, um die heutige Kunst auszustellen. Und auch der Kunstspaßpalast Centre Pompidou hat Schwierigkeiten, mit dem Zeitgeist mitzuhalten. Ab Januar 2002 wird er endgültig für das vergangene 20. Jahrhundert zuständig sein, die richtige Avantgarde zieht dann um ins „Palais Tokyo“, in direkte Nachbarschaft zum Musée d’art moderne.

Diesmal ist allerdings keine Institution „à la francaise“ vorgesehen. Eine Hyper-Factory ist geplant, ein transparentes Kunstlabor, wo an jeder Ecke experimentiert wird. Der Betrachter kann von Videoinstallationen zu Modeschauen schlendern, an Web-Art-Werken persönlich teilnehmen und manchmal im Restaurant vorbeischauen, um sich vor einer prächtigen Glaswand auf eine Diskussionsrunde vorzubereiten. Transdisziplinär soll es sein, sagt Nicolas Bourriaud, einer der beiden zuständigen Chefkuratoren, und besteht auf diesem Wort. „Nicht multidisziplinär wie im Centre Pompidou“, betont er, wo Bilder schön säuberlich von Design oder Film getrennt sind: „Wir wollen Installationen, Videos, Filme, Modeschöpfer der neuen Generation im Kontakt und Austausch zeigen.“

Nicolas Bourriaud und Jérôme Sans, die zwei zukünftigen Direktoren des „Palais Tokyo“, gehören zur neuen hyperaktiven und omnipräsenten Generation der Kunstkritiker und Ausstellungsmacher, die einen sozialen Zugang zur Kunst propagieren. Keine Kontemplationen, sondern möglichst dichte Kontakte zwischen Kunst und Lebenswelt. Ein Kunstwerk lässt sich am besten verstehen, wenn es mit Film, Musik, Mode oder Tanz konfrontiert wird.

Die Geschichte des neu gestalteten Palais begann vor zwei Jahren. Im April 1999 hatte die französische Kulturministerin Catherine Trautmann die Schaffung eines Zentrums für junge Kunst angekündigt. Gute Idee, meinten die beglückten Künstler und verfassten eine ziemlich freche Petition. Mit deutlichen Worten protestierten sie gegen den institutionellen Korporatismus und forderten die Ministerin auf, die Leitung des neuen Zentrums einem Künstler oder wenigstens einem freien Kurator zu überlassen – offenbar hatte man genug von den Kunstverwaltern, die in der Abgeschiedenheit ihrer Tagungen über Schicksale der Künstler entscheiden. Zu diesen Versammlungen würden sie ohnehin nie eingeladen, „genau wie man keine Kranken zu einem Ärztekongress einlädt“. Die Ministerin zeigte sich für den geistvollen künstlerischen Protest empfänglich und veranstaltete einen Wettbewerb um den künftigen Direktorenposten des Zentrums.

„Französische Revolution“, schrieb damals das Time-Magazin etwas ironisch, aber respektvoll genug, und bildete ein schönes Foto der beiden unabhängigen Ausstellungsmacher Nicolas Bourriaud und Jérôme Sans ab, die als Sieger des Wettbewerbs hervorgegangen waren. Zum ersten Mal in der französischer Museumsgeschichte kommen Freelancer ohne Amt wie Bourriaud und Sans an die Spitze einer Kulturinstitution von solchem Format. Es ist also tatsächlich eine Revolution per Petition geworden, die Paris in die Lage bringen soll, den Hochburgen der zeitgenössischen Kunst wie London und New York Paroli zu bieten.

Aber auch die anvisierte Mischfinanzierung der Ausstellungshalle wird als eine atemberaubende Neuigkeit in Pariser Kulturangelegenheiten betrachtet. Privates Kultursponsoring gilt in Frankreich immer noch als gefährliche amerikanische Häresie. Nun wird das Palais zum Teil mit privaten Geldern gefördert. 10 Millionen Franc im Jahr gibt das Kulturministerium, der Rest muss anderswoher kommen. Vier Sponsoren haben bislang ein ernsthaftes Interesse am Projekt geäußert, Verträge mit ihnen sind schon ausgearbeitet.

Stellt sich nur die Frage: Was ist die beste Finanzierungsform für zeitgenössische, aktuelle Kunst? Galerien sind marktabhängig und damit krisenanfällig, der Staat, zumal in Frankreich, ist in Sachen Kunst traditionell träge und konservativ. Außerdem will es die Pariser „Generation 2000“ den potenziellen Sammlern nicht so leicht machen, wie man es von anderen Kunstszenen her kennt, und praktiziert die völlige Missachtung des Kunstmarkts. Im Gegensatz zu der englischen Brit Art, die ihre Schocks marktgerecht verpackt und damit vorzüglich reüssiert, betreiben Künstler und Künstlerinnen wie Claude Closky, Dominique Gonzales-Foerster oder Koo-Jeong-A eine neue Tradition der Bilderkritik. Sie machen vollkommen unverkäufliche „Aspirin“-Skulpturen oder kontroverse Videos und denken über den spannungsvollen Unterschied zwischen Bild und Bildschirm nach.

„Das Finanzierungsmodell ‚Staat plus privat‘ finde ich sehr gut“, sagt Bourriaud. „Eine Seite wird die andere korrigieren. Wir brauchen sie beide. Institutionen sind nicht mehr die größte Gefahr für die Kunst, sondern der Kunstmarkt, der dem Interessantesten und Gewagtesten die Chancen abschneidet.“

Ein anderes Paar abgesegneter Querdenker und „hoch begabter Bastler“ ist für das ziemlich gewöhnungsbedürftige architektonische Setting des „Palais Tokyo“ zuständig: Jean-Philippe Vassal und Anne Lacaton haben ihr Projekt zur Umgestaltung des leer stehenden Gebäudes schlicht „No architecture“ genannt. Mit diesem knappen Konzept wurden die alten, leer stehenden Räume entkernt und als Ausstellungsfläche mit insgesamt 3.000 Quadratmetern für die erstaunlich geringe Summe von 20 Millionen Franc wieder benutzbar gemacht. „Die Kunst braucht keinen Schick, sondern Raum“, behauptet Vassal und handelt nach diesem Grundsatz. „Wir haben uns dafür entschieden, den Raum so zu belassen, wie er ist, ungeschminkt, mit Farbspuren auf rohen Betonwänden und grauen Betonsäulen. Ein Architekt kann den Raum zur Außenwelt öffnen, daraus einen offenen und lebendigen Ort machen. ‚Wände weg!‘ hieß daher das Motto unserer Arbeit. Wir hatten den berühmten Platz Djemaa el-Fna in Marrakesch vor Augen mit dem idealen Kunstchaos, das dort herrscht. Die Menschen müssen zirkulieren, spontan kommen und gehen, sich in jedem Moment zu unerwarteten Entscheidungen ermutigt fühlen.“

Das werden die künftigen Besucher des „Palais Tokyo“ von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr nachts exerzieren können. Diese künstlerfreundlichen Eröffnungszeiten, die in Paris als der ultimative „Hype“ gelten, sind auch ein Zeichen der Zeit. Die künstlerische „Generation 2000“ spielt mit mehreren Medien gleichzeitig, dreht Filme, organisiert Techno-Partys und ist an multimedialer Vernetzung und elektronischer Abbildung interessiert. Sie macht nur selten die bekannten, traditionellen Ausstellungen, lebt von unterschiedlichen Einnahmequellen und betrachtet alle ihre Aktivitäten als Kunstwerke.

Ihrem Kunstverständnis will die neue Ausstellungshalle gerecht werden. Von der Last des Sammelns und zugleich auch von schwerfälligen Museumshierarchien freigestellt, wird sie ihre Vorteile ausspielen – einer davon ist sicherlich die Flexibilität. „Wenn ich eine interessante Arbeit irgendwo sehe, kann ich sie sofort ausstellen“, schwärmt Nicolas Bourriaud, „ich muss keine zwei Kilo Papier unterschreiben und danach sechs Monate warten.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen