: Innerstaatliche Grenzüberschreitungen
Veranstaltung und Party„Free Movement is Our Right“: In der Roten Flora gibt's heute Infotainment gegen Abschiebungen und die sogenannte Residenzpflicht ■ Von Astrid Kusser und Vassilis Tsianos
Du wirst aus unserem Missverständnis mit dem Flüchtenden und den Schüssen im Morgengrauen ersehen können, welche Art von Genauigkeit ich meine; ich meine die Grenze: die Entfernung: den Unterschied. (Uwe Johnson in „Grenzübertritte“)
Letzten Monat ist ein junger Vietnamese auf der Flucht vor Bundesgrenzschützern an der sächsischen Grenze ums Leben gekommen. Mit Hunden, Polizeihubschraubern und Geländewagen verfolgten ihn mehr als dreißig Beamte, bis der Mann in einem Steinbruch zehn Meter in die Tiefe stürzte und starb. Früher war die Grenze die Mauer.
Mittlerweile ist ganz Deutschland Grenzgebiet, und den Unterschied merken diejenigen, die sich den Kanaken nicht aus der Fresse wischen können. Es geht um die innere Sicherheit. Jeder Landkreis, jeder Bahnhof, sogar jede Bushaltestelle ist mittlerweile zur Grenze geworden. Vor einigen Monaten sprangen zwei nigerianische Frauen aus dem vierten Stock einer Wohnung in Hamburg. Die Polizei hatte an die Tür geklopft. Die zwei Frauen waren alleine in der Wohnung. Sie besaßen gültige Aufenthaltspapiere, waren aber außerhalb Hamburgs als Flüchtlinge regis-triert.
Asylbewerber dürfen sich nur in dem Landkreis aufhalten, in dem sie ihren Asylantrag gestellt haben. Bezeichnet wird das Ganze mit dem rassistischen Euphemismus „Residenzpflicht“. Es gibt selbstverständlich viele Gründe, weshalb es für Flüchtlinge notwendig ist, die ihnen zugewiesene „Residenz“ verlassen zu können. Die Rechtsanwältin der zwei Frauen sitzt in Hamburg, hier ist auch der Sitz der African Refugees Association, dessen Vorstandsmitglieder die beiden Frauen sind. Dieses Mal hatten sie nicht um Erlaubnis gebeten. Offensichtlich in Panik stürzten sie sich aus dem Fenster.
Die Verfolgung alltäglicher Handlungen mit Hilfe rigider Ausländergesetze bewirkt, dass sich Flüchtlinge eher von der Polizei als vor Naziangriffen schützen müssen. Die bundesweit agierende Gruppe The Voice, ein Zusammenschluss von Flüchtlingen, führt vom 17.-19. Mai in Berlin eine Kampagne gegen die Residenzpflicht durch. Mit einer Infoveranstaltung und anschließender Party – beides in der Roten Flora – trägt die Gruppe ihre Kampagne heute nach Hamburg.
The Voice ruft zum zivilen Ungehorsam gegen die Einschränkung des Rechts auf Mobilität auf. Schon der Kongress, den The Voice letztes Jahr in Jena ausgerichtet hat, war eine Provokation: Allein die Anreise war für viele eine Gesetzesübertretung. Zum ersten Mal demonstrieren unabhängig organisierte Flüchtlinge die Grenzen einer paternalistisch-humanitären Flüchtlingsbetreuung, stellen sie durch zunehmende Selbstermächtigung in Frage.
Wurde bis jetzt hauptsächlich der repressive Aspekt der staatlichen „Sonderbehandlung“ kritisiert, von der Unterbringung in Sammelunterkünften bis zur Ausgabe von Sachleistungen, erkämpft The Voice mit ihrer Aktion nun ein Feld, das bislang linken Urbanisten vorbehalten war. Es geht um den Unterschied, den es macht, ob man im ländlichen Ghetto leben muss oder in die Stadt ziehen kann, es geht um die Entfernung, die einen von urbanen Ressourcen trennt. Es geht darum, wo die Grenze verläuft.
heute, 19 Uhr: Info- und Soliveranstaltung (mit Referentinnen von The Voice e.V.); 20.30 Uhr Film: Stop Deportation – Flüchtlinge melden sich zu Wort; 23 Uhr Party: Drum'n'Bass DJs Tricky D (Berlin), Calavera (Berlin), Snautstyle (Berlin), Good Fella (Hamburg), mit den MCs Missiw le Ghaza (9mm Berlin), Bombsh (Hamburg). Chill Out mit Seltsam + Strahler und E.M.U. Deko von Mondesel.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen