: Mehr Theorie, mehr Spielräume
Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen (Teil VII und Schluss): Ein Nachwort ohne große Gerechtigkeitsansprüche
■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den richtigen Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut
von PETER FUCHS
Diese Serie könnte leicht zu einer never-ending story werden. Deswegen brechen wir sie jetzt ab an einer eigentlich beliebigen Stelle, ein Bruch, der nur leicht gemildert werden kann durch ein Nachwort.
Üblicherweise sind solche Epiloge Orte, an denen Blickverzerrungen korrigiert werden können; Schrifträume, die Gelegenheit bieten, Ungerechtigkeiten wieder ins Lot zu rücken. In diesem Fall ginge es darum, die Betreuer und Betreuerinnen nicht über einen Kamm zu scheren. Es sind nicht alle – so! Andererseits genügen wenige Leute, die unaufmerksam sind in Dingen, die das Selbstverständliche des Humanums betreffen, um sehr vielen abhängigen Leuten weh zu tun. Diese Gesellschaft ist ja auch eine, in der Betreuungs- und Abhängigkeitslagen explodieren, und damit ist die Gefahr gewaltig gestiegen, dass Unzuträgliches geschieht, wenn es darum geht zu betreuen.
Tatsächlich habe ich aber keine Lust, sehr gerecht zu sein. Schließlich ist nichts Besonderes daran, wenn man seinen Job angemessen ausübt. Ebendies rechtfertigt Bezahlung. Man wird den Bäcker nicht dafür loben müssen, dass er Brot herstellt, den Chauffeur nicht dafür, dass er ein Auto herumfährt, die Professorin nicht dafür, dass sie lehrt. Dies alles versteht sich von selbst, und nur in den sozialen Berufen (oder was man dafür hält) hat es sich auf eine mitunter widerwärtige Weise eingebürgert, die Leute, die sie betreiben, auch für moralisch prächtige Leute zu halten. Am meisten bewundern sie sich in dieser Hinsicht selbst.
Wer mit alten und gebrechlichen Menschen zu tun hat, der hat es eben irgendwie schwerer als der Bäcker, der Chauffeur oder die Professorin; wer mit und an Behinderten arbeitet – dito. Bei der Einweihung einer Einrichtung für Behinderte habe ich erleben müssen, wie der zuständige Landesbischof seine (über alle Maßen unnötig lange) Rede dem schweren Geschäft der Betreuer und Betreuerinnen widmete. Er flehte Gottes Segen auf sie herunter.
Das muss man aber nicht. Gottes Segen schadet zwar kaum, aber in Betreuungskontexten geht es um Professionalität (die all die Selbstverständlichkeiten einschließt, über die wir geredet haben), nicht darum, die Leute, die in ihnen arbeiten, für besonders vortrefflich und hochwertig zu halten oder ihre Arbeit für besonders schwer. Das ist sie nicht – jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als anderswo in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft.
Die Frage ist natürlich, wie man erreichen kann, dass Professionalität an die Stelle der Selbstbeweihräucherung tritt. Das ist die Frage nach der Ausbildung, und wenn man sich diese Ausbildungen anschaut, wundert man sich kaum noch über die moralisch durch und durch vernebelte Szene, in der das Betreuungsgeschäft abgewickelt wird. Bei der nicht akademischen Crash-Ausbildung, die eher praktisch orientiert ist, fehlt die Zeit, an ethischen Standards zu arbeiten; bei der akademischen Ausbildung (an all den sozial-, heil- und sonderpädagogischen Fakultäten) mangelt es eigentlich nicht an Zeit, aber sie geht, wenn man so sagen darf, im Ganzheitlichkeits- und Integrationsgenöle unter. Man hat nicht den Eindruck, es mit trennscharfer gepflegter Begrifflichkeit zu tun zu haben. Der Theoriehorizont (wenn es überhaupt darum geht) reicht selten weit über Merton, Foucault, Goffman etc. hinaus.
Deswegen explodiert die andere Seite der Theorie, das also, was der gemeine Menschenverstand Praxis nennt. Die Leistung der Skepsis (eben der Theorie) wird minimiert. Der Behinderte (um nur bei ihm zu bleiben) wird zum moralisch hochwertigen Objekt, mit dem sich moralisch hochwertige Subjekte beschäftigen – meditierend, Makramee knüpfend, Segelboot fahrend, Theater spielend, Karawanen organisierend, sich selbst erfahrend, Authentizität exerzierend. Gepflegt wird, wie Klaus Harney sagen würde, ein geselliger Klientelismus, und, was nicht ohne Bedeutung ist: Abwehr dessen, was sonst diese Gesellschaft ermöglicht.
Man trägt das Banner eines Igitts vor sich her: Igitt ist die Wirtschaft, igitt ist das Recht, igitt ist die Politik. Nur die Erziehung und die Kunst sind ein bisschen weniger igitt. Aber ganz furchtbar igitt ist alle Theorie. Denn sie ist grau, wohingegen in den sorgsam unterhaltenen Nischen der einschlägigen Fakultäten und sonstigen Lehranstalten dieser Art des Lebens goldener Baum munter vor sich hinblüht.
Ich sage es deutlich, weil ich es weiß: Da gibt es jede Menge Nischen, die eine Menge Geld kosten, aber nicht einem, nicht einem einzigen Behinderten (oder sonst abhängigen Menschen) das Leben lebenswerter machen. Man hat sich eingerichtet in Wissensbeständen, die so elfenbeingelb sind wie alte Klaviertasten. Ethische Standards, wie sie andere Professionen kennen, sind durch schnell wechselnde Moralen ersetzt worden. Integration ist kein Problem, sondern ein „Muss“; abweichende Optionen werden nicht einmal diskutiert, geschweige denn, dass VertreterInnen kühlerer Wissenschaften oder missliebiger Theorien an solchen Fachbereichen vortragen dürften. Die Studierenden werden darin geeicht, dagegen zu sein, vor allem gegen Abstraktion, und sie werden darin bestätigt, zunächst einmal dafür zu sein, für Behinderte zum Beispiel, ob die das wollen oder nicht, für Ganzheitlichkeit, ob das nun ein durch und durch dösiger Begriff ist oder nicht, für Integration, ob ihnen nun jemand diesen Begriff erläutern kann oder nicht.
Sei’s drum. Ärger ist ein schlechter Ratgeber. Er nutzt auch den Ministerien nicht viel, die allenfalls die Möglichkeit hätten, etwas gegen das Moralgedudel zu tun, durch Verschlankung aufs Wissenschaftliche beispielsweise, und das heißt ja auch: auf die Förderung und Vermittlung des Wissens durch Leute, die – nachgewiesenermaßen – nicht nur gute Menschen sind, sondern ihr Fach verstehen. Die Ministerien können deswegen nicht viel tun, weil hier längst sich selbst stabilisierende, argumentationsresistente Sozialkontexte entstanden sind, die ihren eigenen Nachwuchs rekrutieren. Man hat schon zu viel gezahlt, um jetzt noch schlankerhand sagen zu können, dass dieses Geld womöglich in den Wind geschossen wurde und wird.
Ich kann auch nicht viel tun außer: dezidiert ungerecht zu sein – wenigstens im Blick auf die Basics zivilisierten Umgangs von Menschen miteinander. Ich habe in dieser Serie mehrfach Regeln formuliert, ich will es auch zum Abschluss tun. Will man das Niveau dieses zivilisierten Umgangs miteinander in Abhängigkeits- und Betreuungslagen erreichen, so könnten folgende (von Heinz von Foerster abgezogene und variierte) Maximen gelten: Handle stets so, dass die Alternativität deiner Klientel wächst und lege niemanden auf eine Alternative des dabei entstehenden Spielraumes fest.
Handle niemals so, dass der Handlungsspielraum deiner Klientel verringert wird.
Füge niemandem etwas zu, wovon du meinst, dass es dir selbst nicht zugefügt werden sollte. Im Zweifelsfall lass es zuerst an dir durchführen – und dann schau weiter.
Halte dich niemals für einen moralisch höherwertigen Menschen, nur weil du das Selbstverständliche tust.
Und schließlich: Jammere nicht! Achte stattdessen darauf, dass du auf dem Laufenden bist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen