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Flucht vor Dürre und Krieg

aus Herat JAN HELLER

Maslach – Schlachthaus – nennt sich auf Dari, dem afghanischen Persisch, die Zeltstadt, die sich über die Ebene 15 Kilometer westlich von Herat ausdehnt. Ein Hügelrücken im Norden kann die Bewohner nicht vor dem Wind schützen, der besonders nachmittags kräftig auffrischt und den Sand aufwirbelt. Der vermischt sich mit den Staubwolken, die die Lastwagen auf ihrem Weg in den nahen Iran hinter sich herziehen. Die Straße zum Grenzübergang Islam Qala Richtung Meschhed und an den Persischen Golf, die hier nur eine ausgefahrene Lehmpiste ist, führt direkt am Lager Maslach vorbei.

Das Schlachthaus in Herat, das dem Lager für Binnenflüchtlinge im Westen Afghanistans seinen Namen gab, ist heute wie so viele Unternehmen im Lande nur noch eine Ruine. Das Lager selbst dagegen platzt aus allen Nähten: Die Vereinten Nationen beziffern die Zahl der Internally Displaced Persons (IDP) in Maslach Ende April auf 112.000. Täglich kommen laut UN-Angaben etwa weitere 1.600 dazu. Ab und an mischen sich Taxis zwischen die Lkws – für jene Flüchtlinge, die sich den Fahrpreis leisten können. Die meisten jedoch haben nichts weiter dabei als das, was sie am Leib tragen. Ihre Ersparnisse, das geht aus zahlreichen von internationalen Hilfsorganisationen geführten Interviews hervor, haben ihnen die Lkw-Fahrer abgenommen, die sie über die verschneiten Pässe Nordwestafghanistans gebracht haben.

Schon auf dem Weg hierher sind viele Kinder erfroren, weil sie nicht warm genug gekleidet waren. In Maslach ging das Sterben dann weiter, als die Temperaturen im Winter nachts bis minus 25 Grad fielen und noch keine Unterkünfte für alle Neuankömmlinge bereit standen. Viele waren gezwungen, unter freiem Himmel zu übernachten – die UNO versorgte damals bereits vier andere Lager in der Umgebung der Stadt Herat.

Die meisten Binnenflüchtlinge in Maslach kommen aus den Nordprovinzen Badghis und Ghor. Die zählen zum „Hungergürtel“ Afghanistans, jenen Gebieten, die von der seit fast drei Jahren anhaltenden Dürre besonders schwer betroffen sind. Viele Bauern konnten im Herbst und in diesem Frühjahr nur einen Teil ihrer Felder bestellen. Während in Badghis in diesem Frühjahr nach einem gerade veröffentlichten Bericht des World Food Program (WFP) noch 35,4 Prozent der Äcker bestellt wurden, sind es in Ghor sogar nur 18,1 Prozent. Vom Viehbestand ist im besten Fall die Hälfte übrig geblieben. In Badghis blieb den Bauern von Kühen und Zugochsen durchschnittlich gerade ein Stück Vieh, bei Schafen und Ziegen zwei von zehn. Maslach nahm jene Menschen auf, die bis Ende 2000 trotzdem versucht hatten, in ihren Dörfern zu überleben.

Doch die Dürre ist nicht der einzige Fluchtgrund. Zwar bestreiten die örtlichen Taliban-Behörden, dass Kriegsflüchtlinge den größeren Teil der Menschen in Maslach stellen. Aber in den Provinzen Badghis und Ghor wird gekämpft, wenn auch mit niedriger Intensität (siehe oberen Kasten). Dort haben sich Taliban-Gegner in Enklaven verschanzt, die den ultraislamistischen Eiferern einiges Kopfzerbrechen bereiten. Mehrmals versuchten die Taliban bereits vergeblich, diese Gruppen zu zerschlagen. Aber ihre hochmobilen Pick-up-Kolonnen, die im flachen Land sehr effektiv sind, versagen in den Bergen, wo sich die Guerilla der Vereinigten Front (UF) von Ahmad Schah Massud eingenistet hat. Die Bewohner befürchten Racheakte der Taliban: Das Massaker in Yakaolang in der Provinz Bamian, bei dem im Januar etwa 300 Zivilisten hingerichtet wurden, hat sich bis hierher herumgesprochen.

Inzwischen ist es Frühling, und das Camp bei Herat sieht auf den ersten Blick menschenwürdig aus. Kinder toben umher, akute Unterernährung ist nicht zu sehen. Man findet kaum noch Behelfszelte aus Plastikfolie, es gibt einige wenige Brunnen und Latrinen, regelmäßig werden Lebensmittel und Medikamente verteilt. Am Rande der Zeltstadt weist ein Schild auf ein von der EU gefördertes Projekt zur Produktion von Pasta hin – nicht gerade ein integraler Bestandteil der afghanischen Küche.

Aber immer noch drängen sich nach UN-Angaben drei bis fünf Familien in einem der viel zu wenigen Zelte. Es fehlen 3.000 Latrinen und 250 Brunnen. Baden oder duschen kann man in Maslach nirgends. Die Bewohner leben am Existenzminium, und im heißen westafghanischen Sommer kann das Leben dort zur Qual werden und für viele Menschen auch den Tod bedeuten. So unternehmen manche den beschwerlichen Marsch ins 15 Kilometer entfernte Herat, in der Hoffnung, dort wenigstens einen Tagesjob zu finden und dadurch die kargen Hilfsrationen um zusätzliche Lebensmittel zu ergänzen.

Maslach gilt mittlerweile als Synonym für die Dürrekatastrophe in Afghanistan. Seit im Schlepptau der früheren UN-Flüchtlingskommissarin Sadako Ogata und ihres Nachfolgers Ruud Lubbers Journalisten aus aller Welt über das Camp berichtet haben, stürzen sich internationale Hilfsorganisationen regelrecht auf das Lager. Diese Aufmerksamkeit fehlt anderen Flüchtlingslagern. In der Wüste bei Masar-e Scharif in Nordafghanistan kampieren beispielsweise zahlreiche Afghanen unter ähnlichen Bedingungen wie in Maslach. Zehntausende Menschen harren auf flutbedrohten Inseln im Grenzfluss Pandsch zu Tadschikistan aus. Sie erhalten wegen der Unzugänglichkeit des Areals, der Nähe zur afghanischen Hauptkampflinie und weil sich auch einige Anti-Taliban-Kommandeure mit ihren Familien dorthin geflüchtet haben, weit weniger Unterstützung als Maslach.

Das Schlimmste scheint indes überstanden. Erstaunlicherweise werden in vier großen Städten Afghanistans immer noch meterologische Daten erhoben, und die weisen in diesem Frühjahr immerhin zwischen 40 und 60 Prozent der normalen Niederschlagsmenge auf. Im Osten, um Jalalabad, sieht es aufgrund des subtropischen Klimas und des reichlichen Zuflusses von Schmelzwasser besser aus. Aber kaum entfernt man sich von den großen Flussläufen, bietet sich das übliche Bild: Zwar steht der Weizen besser als im letzten Jahr, aber auf den regenbewässerten Feldern eben nur halb so hoch wie in den Flussoasen. „Alle Bauern, außer die im Osten und Nordosten, bereiten sich auf ein weiteres Jahr der Dürre vor“, so das Resümee des WFP. Neun Provinzen Afghanistans seien akute Krisengebiete, denn dort hätten die Bauern auf weniger als der Hälfte des normalerweise bestellten Landes gesät. Im besten Falle, rechnet das WFP, könne die Ernte die Marke von 60 Prozent des Jahres 1998 erreichen, dem letzten ohne Dürre.

Eine halbe bis eine Million Menschen sind weiterhin vom Hungertod bedroht. Sie haben keinerlei Reserven mehr wie noch im vergangenen Jahr. Und die Krise wird noch mindestens bis Juli nächsten Jahres andauern. Unterdessen liefern sich die Hilfswerke in Maslach mit den örtlichen Taliban-Behörden einen erbitterten Kampf darum, wer die Verteilung der Hilfslieferungen kontrolliert (siehe Kasten unten). Zugleich geben sich die Taliban alle Mühe, die UNO und die privaten Hilfsorganisationen anzuklagen, nicht genug zu tun. Aber damit soll lediglich die eigene Unfähigkeit – manche Beobachter meinen auch: der fehlende Wille – verdeckt werden, etwas für die eigene Bevölkerung zu tun.

Besonders der Vertreter des Taliban-Ministeriums für Flüchtlinge hier in Herat ist bekannt dafür, dass er für hohe ausländische Gäste eine regelrechte Show inszeniert, in der aufgebrachte Flüchtlinge lautstark Hilfe einklagen. Auch lässt er schon mal prominente Besucher wie jüngst Ruud Lubbers von Flüchtlingen in Bedrängnis bringen. Das ist leicht bei dem Grad der Verzweiflung, die hier herrscht. Bei dieser Gelegenheit scheute er sich nicht, die Lebensmittelverteilung für die Kinder in Maslach um fünf Stunden nach hinten zu verschieben. Ein anderes Mal rief er in Anwesenheit einer UN-Helferin den Flüchtlingen zu: „Ihr habt ihr es zu verdanken, dass ihr nicht genug Hilfe bekommt. Steinigt sie!“ Zum Glück konnte die Frau entkommen.

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