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„Ich will den Heroismus zeigen“

Interview KATJA NICODEMUS

taz: Claude Lanzmann, Ihr neuer Film besteht zum Großteil aus einem bereits 1979 gefilmten Gespräch, in dem der aus Polen stammende Yoshua Lerner erzählt, wie er im Konzentrationslager Sobibór einen deutschen Offizier erschlagen hat. Eigentlich sollte das Material in Ihren Dokumentarfilm „Shoah“ eingehen. Warum haben Sie es damals nicht verwendet?

Claude Lanzmann: Weil die Aufstände nicht das zentrale Thema von „Shoah“ sind. Es geht um die Radikalität des Todes, die Radikalität der Auslöschung, die Unentrinnbarkeit von alledem. Zwar kommen in „Shoah“ auch Aufstände vor, selbst der Aufstand von Sobibór, aber in reduzierter Form. „Shoah“ endet mit der Erhebung im Warschauer Ghetto, die fehlschlug. Dabei wurden alle Aufständischen getötet, es ist ein Ende der völligen Verzweiflung. Sobibór dagegen war der einzige erfolgreiche Aufstand, der je in einem Konzentrationslager stattfand, alle deutschen Bewacher wurden dabei umgebracht. Nun ist „Shoah“ ein Film ohne Kommentar, dessen Konstruktion allein auf seiner Verständlichkeit beruht. Hätte ich die Sobibór-Geschichte unter dieser Prämisse hereingenommen, dann wäre er drei Stunden länger geworden.

Warum haben Sie sich gerade jetzt entschlossen, aus der Erzählung dieses Juden, der sich wehrt und zurückschlägt, einen eigenständigen Film zu machen?

Ich habe einfach so viel Zeit gebraucht. Die Vorbereitung des Aufstandes, der Plan, den Offizier und alle anderen Deutschen zu exekutieren, all das hätte allein noch keinen Film ergeben. „Sobibór, 14. octobre 1943, 16 heures“ ist ein Film, der aus Yoshua Lerner besteht, und dafür muss man verstehen, wer er ist. Dafür musste ich in die Gegend zurückkehren, in der alles stattgefunden hat. Ich musste die Landschaften und Orte filmen und daraus eine Geschichte konstruieren. Lerner hat es tatsächlich fertig gebracht, aus acht Konzentrationslagern zu fliehen, bevor er in Sobibór gelandet ist. Es war also nicht einfach irgendjemand, der den Schädel des Offiziers Greischütz mit einer Axt gespalten hat. Dass dieser Film, der ihm allein gehört, dann so viel Kraft und Spannung bekommen hat, darauf bin ich stolz.

Demnächst wird „Shoah“ in Frankreich auf DVD herauskommen, auch in Auszügen für den Schulunterricht. Glauben Sie nicht, dass „Sobibór“ jetzt auch dazu gehört?

Ich hoffe sehr, dass der neue Film ebenfalls verbreitet wird. Denn er zeigt eine andere Seite, den Mut und den Heroismus. Und er zeigt, dass man manchmal sein Leben aufs Spiel setzen muss. Das Schöne an der Geschichte ist, dass der Tod im Konzentrationslager zwar eine sichere Sache war, doch Lerner und seine Kameraden wollten die Form ihres Todes selbst wählen. Einmal sagt er den Satz: „Abgesehen vom Tod hatte ein Jude dort nichts zu gewinnen.“

An deutschen Schulen zum Beispiel wurde die Beschäftigung mit dem Holocaust oft auf eine Fortsetzung der Opfergeschichte reduziert. Sechs Millionen Opfer sind eine abstrakte Größe, von der man fast erschlagen wird. War Ihnen Yoshua Lerners Geschichte auch deshalb wichtig, weil er aus diesem Opfersein herausgetreten ist?

Ich bin überzeugt, dass es gerade für die Deutschen wichtig und interessant ist, einen Juden wie Yoshua Lerner zu sehen, der darauf bestanden hat, wieder ein Subjekt zu werden und gegebenenfalls als Subjekt zu sterben. Der Holocaust war ja nicht nur ein Massaker an Unschuldigen, sondern vor allem an wehrlosen Menschen. Vor diesem Hintergrund ist der Augenblick, in dem dieser sechzehnjährige Junge im Konzentrationslager die Axt erhebt und einen deutschen Offizier tötet, für mich ein mythischer Moment. Yoshua Lerner lebt heute übrigens in Israel. Was er erzählt und wie er als Mensch, der zuvor nicht einmal daran gedacht hatte, jemanden zu töten, zur Waffe greift, hat auch sehr viel mit den Wurzeln des heutigen jüdischen Staates zu tun.

Sie selbst haben Sobibór als „Wiederinbesitznahme der Gewalt durch die Juden“ bezeichnet. In welchem Zusammenhang steht dieser Film mit „Tsahal“, Ihrem Dokumentarfilm, den Sie 1994 über die israelische Armee gedreht haben?

„Tsahal“ hat sehr viel damit zu tun. Die jüdische Armee ist ja nicht einfach so von selbst entstanden. Für Menschen, die mit Waffen nicht vertraut waren und keinerlei militärische Tradition hatten, musste das alles aus kleinen Teilen zusammengesetzt und sozusagen neu erfunden werden. Insofern gibt es eine wirkliche Verbindung zwischen der Gewalt, die „Sobibór“ schildert, und der Armee, die in „Tsahal“ beschrieben wird.

Nehmen wir einmal an, Sie würden „Tsahal“, der ja sehr umstritten ist, heute noch einmal drehen. Würden Sie die israelische Armee vor dem Hintergrund der aktuellen Gewaltexzesse etwas kritischer untersuchen?

Nein, ich würde den Film genauso drehen. Trotz allem, was man erzählt, und trotz der Propaganda, die heute verbreitet wird und in der man die Israelis als Schlächter und Mörder darstellt. In „Tsahal“ ging es mir darum, zu zeigen, dass diese Armee einen nicht gewalttätigen Ursprung hat. Natürlich gibt es auch in der israelischen Armee Sadisten und Typen, die gerne töten, aber ich bin davon überzeugt, dass es weniger sind als anderswo – und ich kenne diese Armee sehr gut. Was heute in Israel passiert, hat weniger mit dieser Armee als mit den Politikern zu tun.

Als Filmemacher haben Sie immer gefordert, dass man den so genannten Zeitzeugenberichten eine Form geben muss. Wie stehen Sie zu den Aktivitäten von Steven Spielbergs Shoah Foundation?

Ich drehe Kinofilme, und diese Film haben nichts mit dem zu tun, was Spielberg da treibt und was sich „oral history“ nennt. Was soll das eigentlich sein, diese amerikanische Erfindung einer „oral history“? Und was ist dann die „visual history“? Ich mache ganz bewusst keinen Unterschied zwischen Bild und Wort, sie sind ineinander verwoben.

Was genau werfen Sie Spielbergs Methode vor?

Spielberg ist inzwischen eine Art Big Brother der Erinnerung. Nehmen Sie „Shoah“, einen Film über den Tod, nicht über das Überleben. Es gibt darin keinen einzigen Überlebenden, es gibt allenfalls Wiedergänger, die fast schon im Jenseits über dem Boden des Krematoriums schwebten und zurückgekommen sind. Diese Menschen sagen niemals „ich“, sie erzählen nicht ihre eigene Geschichte. Sie sagen „wir“, weil sie für die Toten mit sprechen. Es sind sehr bescheidene, einfache Menschen. Und aus dem, was sie sagen, entsteht kein Abenteuerroman. Ich erzähle nicht, wie sie überlebt haben, wie sie entkommen sind, was aus ihnen geworden ist. Wenn Steven Spielberg hingegen die Leute auf Video über ihr Leben Auskunft geben lässt, dann ist das vielleicht gut für die Familien, die ihre Angehörigen in Erinnerung behalten wollen. Alles was darüber hinausgeht, braucht jedoch eine künstlerische Form. Spielberg sammelt nur persönliche Geschichten, die aber keinen größeren Sinn ergeben. Seine Shoah Foundation hat noch dazu einen furchtbaren Kinofilm gemacht: „The Last Days“. Darin werden die Erzählungen zerschnitten und mit Musik unterlegt. Das ist ein Albtraum.

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