: Wie sicher muss es noch werden?
Rechtssicherheit, vorletzter Akt: Der Kanzler schwankt zwischen Rücksichtnahme auf die Wirtschaft und politischer Notwendigkeit, endlich auszuzahlen
von NICOLE MASCHLER
Überraschend lud Gerhard Schröder gestern nach einem Gespräch mit seinem Entschädigungsbeauftragten Otto Graf Lambsdorff zur Pressekonferenz ins Kanzleramt. Doch am Ende sagte der Regierungschef nur, was er schon immer gesagt hatte: Auszahlung nur im Konsens mit der Wirtschaft.
Dabei hatte es noch am Morgen so ausgesehen, als stünde der Beginn der Zahlungen an frühere NS-Zwangsarbeiter unmittelbar bevor. Die Entschädigungsexperten von Regierungsfraktionen und FDP hätten sich darauf geeinigt, Rechtssicherheit festzustellen, hatte der Grüne Volker Beck gesagt.
Vorausgegangen war das Urteil eines New Yorker Berufungsgerichts, das am Donnerstag die bedingungslose Abweisung der letzten großen Sammelklage gegen deutsche Banken angeordnet und damit das Urteil der Richterin Shirley Kram korrigiert hatte.
Diese hatte in ihrer Urteilsbegründung eine Aufnahme der Ansprüche österreichischer Holocaust-Opfer in das deutsche Stiftungsrecht ins Spiel gebracht – für die Stiftungsinitiative der Wirtschaft eine „inakzeptable Bedingung“. Kram selbst sprach am Dienstag von einem Missverständnis.
Die Richterin habe, so jedoch nun das Berufungsgericht, ihre Kompetenzen überschritten. Sowohl Klägeranwälte als auch beklagte Banken hatten das Gericht angerufen, nachdem Kram eine Verfahrenseinstellung zwei Mal verweigert hatte. Beide Seiten wollten eine Abweisung erreichen. Den Berufungstermin im Blick hatte Kram in der vergangenen Woche die Fälle doch noch zurückgewiesen – wohl wissend, dass die Richter ihr Urteil kassieren würden.
Doch der Stiftungsinitiative reicht das jetzige Urteil nicht. Noch immer seien nicht alle „relevanten“ Fälle abgeschlossen. Es geht um vier Komplexe: In New Jersey sind mehrere Berufungsverfahren anhängig. Allerdings haben die Opferanwälte zugesagt, binnen 24 Stunden nach der New Yorker Entscheidung ihre Klagen zurückzuziehen. Eine weitere Zwangsarbeiterklage liegt bei Richterin Kram, die aber an einen Richter in New Jersey abgegeben werden könnte. Dieser hatte eine Abweisung zugesagt. Entscheidend dürften zwei andere Verfahren sein: In Kalifornien klagen deutsche Versicherungsgesellschaften gegen ein wenige Monate altes Gesetz, das ihnen abverlangt, Informationen über Versicherungspolicen aus der NS-Zeit zu veröffentlichen. Als Nagelprobe für den Rechtsfrieden gilt ein Verfahren in Los Angeles: Der Bruder eines in Auschwitz umgekommenen Zwangsarbeiters, Josef Tiber Deutsch, klagt gegen die Turner Corporation, eine Tochter des Baukonzerns Hochtief. Gegen die Abweisung der Klage hatte Deutsch Berufung eingelegt. Ein Urteil wird frühestens im Juni erwartet.
Doch im Bundestag mehrten sich nach dem Kram-Urteil der vergangenen Woche Stimmen, die den Ausgang dieser Verfahren nicht abwarten wollen. Schließlich ist im Stiftungsgesetz nur von „ausreichender Rechtssicherheit“ die Rede. Doch auch Schröder musste klar gewesen sein, dass eine weitere Verzögerung politisch kaum noch vertretbar ist. Nicht nur der polnische Botschafter hatte ein Kanzlerwort gefordert. Ein schwieriger Spagat für Schröder: Einerseits musste er der Wirtschaft klar machen, dass die Zeit drängt. Andererseits wollte er die Stiftungsinitiative nicht düpieren. Denn erst am Abend wollte Lambsdorff gestern den Verhandlungsführer der Wirtschaft, DaimlerChrysler-Finanzvorstand Manfred Gentz, treffen. Es sollte wohl nicht der Eindruck entstehen, dass die Regierung schon vorher Fakten schaffe. Der Kanzler selbst will sich Anfang Juni mit Vertretern der Wirtschaft treffen.
Drohend steht die Warnung von Wolfgang Gibowski, dem Sprecher der Stiftungsinitiative, im Raum, die Firmen könnten ihre Gelder zurückfordern. Dann aber würden die Opferanwälte die Fälle in den USA neu aufrollen – oder der Bund müsste die zugesagten zehn Milliarden Mark Entschädigung allein schultern.
Bereits am Mittwochabend hatten sich die Berichterstatter der Fraktionen mit Wirtschaftsvertretern getroffen. Bei dem Treffen, so Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach, sei die Wirtschaft von ihren Maximalforderungen abgerückt. Regierung und Fraktionen setzen nun auf Rechtssicherheit noch vor der Sommerpause. Am 11. August läuft die Antragsfrist für die Opfer aus.
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