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„Wahlfreiheit für Eltern“

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Frau Jaeger, die Politik wirkt etwas hilflos im Umgang mit dem Karlsruher Urteil zur Pflegeversicherung. War die Entscheidung nicht klar genug?

Renate Jaeger: Dieses Urteil ist ein sehr eindeutiger Appell dafür, die Bedeutung von Kindern für die Zukunft unserer Gesellschaft nie aus dem Blick zu verlieren. Und die Vehemenz, mit der zurzeit familienpolitische Bekenntnisse abgelegt werden, zeigt, welch schlechtes Gewissen die Politik an diesem Punkt hatte.

Aber was sollen Parlament und Regierung konkret tun, um Eltern bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung zu entlasten? Das Urteil nennt weder Zahlen noch ein konkretes Modell.

Genau. Das Gericht hat einen verfassungswidrigen Zustand festgestellt und dem Bundestag aufgegeben, hieran etwas zu ändern. Auf konkrete Vorgaben haben wir bewusst verzichtet.

Warum?

Es ist sehr schwer, gute Normen zu machen, und wir sind nur ein Gericht. Das heißt, wir haben bei weitem keinen so großen Apparat zur Verfügung wie die Ministerien und der Bundestag.

Dem Urteil wäre also auch mit einer nur minimalen Änderung in der Beitragsstruktur der Pflegeversicherung Genüge getan?

Wenn der Gesetzgeber dies für richtig hält, wäre es keine Missachtung unserer Entscheidung. Dem Verfassungsgericht ging es vor allem um einen Bewusstseinswandel der Politik und der Öffentlichkeit.

In Berlin verursacht die Karlsruher Forderung Unruhe, dass auch die Rentenbeiträge familienfreundlich ausgestaltet werden müssen.

Eine solche Forderung gibt es nicht. Das Gericht hat dem Gesetzgeber nur aufgegeben, auch die Auswirkungen des Urteils auf andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen. Dass der Gesetzgeber eine solche Prüfung vornimmt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Und wie könnte das Ergebnis einer derartigen Prüfung aussehen?

Nach meiner Ansicht als Sozialrechtlerin unterscheiden sich Renten- und Pflegeversicherung so stark, dass die Grundsätze der Pflege-Entscheidung nicht eins zu eins auf die Rentenbeiträge übertragbar sind.

Warum?

Bei der Rentenversicherung hat die Höhe und Dauer der Beitragszahlung Einfluss auf die Höhe der später ausbezahlten Leistung, bei der Pflegeversicherung ist dies nicht so. Deshalb sind Veränderungen an der Beitragsstruktur bei der Rente weitaus heikler.

Der Zeitpunkt für das familienfreundliche Pflegeurteil war gut gewählt. Es kam gerade rechtzeitig zur großen Diskussion um die Erhöhung des Kindergeldes. War das Absicht?

Nein, das hatten wir nicht im Blick. Es wäre meiner Ansicht nach auch nicht gut, wenn jetzt nur noch über Geld gesprochen würde.

Diese Fixierung aufs Monetäre hat doch aber gerade das Verfassungsgericht durch seine Familienurteile zum Steuerrecht und zur Pflegeversicherung ausgelöst.

Wenn das so wäre, würde ich es bedauern. Wir dürfen schließlich nicht aus dem Blick verlieren, dass die Entscheidung eines Paares für oder gegen Kinder auch ganz andere Aspekte hat, vor allem, wie sich Berufstätigkeit und Kindererziehung vereinbaren lassen. Dies hat das Verfassungsgericht ja auch schon des Öfteren betont.

Immerhin gibt es seit 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz.

Es genügt aber nicht irgendein Kindergartenplatz, vielmehr brauchen erwerbstätige Eltern ein Angebot, das auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Erforderlich wäre also der Rechtsanspruch auf einen Ganztagskindergarten.

Der Staat soll den Kindergärten also per Gesetz die Öffnungszeiten vorschreiben?

Warum nicht? Der Staat stellt alle möglichen Anforderungen an Kindergärten, etwa an die Ausbildung der ErzieherInnen und an die hygienischen Bedingungen. Da kann er wohl auch dafür sorgen, dass die Kinderbetreuung ausreichend lange gewährleistet wird. Einrichtungen, die diesen Anforderungen nicht gerecht werden, sollten gar nicht mehr öffentlich finanziert werden.

Fordern Sie für Schulen dasselbe?

Natürlich. Auf den Ganztagskindergarten muss die Ganztagsschule folgen. Außerdem sind auch die schulischen Ferienpläne so zu gestalten, dass erwerbstätige Eltern nicht mehr in Schwierigkeiten geraten. Das ganze Betreuungssystem ist konsequent von den Bedingungen der Arbeitswelt her zu konzipieren.

Könnten erwerbstätige Eltern eine derartige Betreuungsstruktur in Karlsruhe einklagen? Das Verfassungsgericht hat schon 1993 gesagt, dass der Staat verpflichtet ist, die institutionelle Kinderbetreuung zu verbessern.

Das waren Nebenbemerkungen eines Urteils, die für den Gesetzgeber nicht bindend und insofern auch nicht einklagbar sind. Aber ich glaube schon, dass die vom Grundgesetz geforderte Wahlfreiheit für Eltern nur mit einer erheblichen Ausweitung der Kinderbetreuungsangebote zu verwirklichen ist.

Was meinen Sie mit Wahlfreiheit für Eltern?

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrmals betont, dass es für Eltern gleichermaßen möglich sein muss, auf den eigenen Beruf zu verzichten, um Kinder zu betreuen, wie auch Familienarbeit und Berufstätigkeit zu verbinden.

Wenn Sie davon sprechen, dass Erwerbsarbeit auch mit Kindern problemlos möglich sein muss, meinen Sie dann Teil- oder Vollzeitarbeit?

Ich meine Vollzeitarbeitsplätze.

Erinnert die staatliche Ganztagsbetreuung von Kindern nicht sehr an das DDR-System?

Man sollte nicht die Inhalte der DDR-Erziehung mit der Form der Ganztagsbetreuung verquicken. Derartige Einrichtungen gibt es in vielen europäischen Staaten, die mit der DDR nicht das Geringste zu tun haben.

Sie glauben aber, dass es in der DDR im Prinzip bessere Bedingungen für die Verbindung von Kindererziehung und Beruf gab als bei uns heute?

Die Lebensumstände in der DDR waren zwar nicht gut, aber sie haben sich durch die Geburt eines Kindes wenigstens nicht verschlechtert. Bei uns merken Frauen dagegen nach der Geburt des ersten Kindes sehr schnell, dass die Gesellschaft ihnen nicht entgegenkommt, und dann verzichten sie meist auf die Geburt eines zweiten Kindes.

Viele Frauen bleiben aber auch deshalb zu Hause, um von der Entwicklung ihrer Kinder so viel wie möglich mitzuerleben.

Frauen haben ein großes Talent, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und dies dann zu überhöhen. Wenn jedoch deutsche Frauen im Ausland die Möglichkeit haben, Kinderbetreuungseinrichtungen zu nutzen, dann machen sie natürlich Gebrauch davon. Schließlich haben Eltern auch dann noch mehrere Stunden am Tag Gelegenheit, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen.

Dass Frauen wegen der Kinder zu Hause bleiben, hat auch viel mit tradierten Rollenbildern zu tun. Können Staat und Verfassung in solche privaten Bereiche der Lebensgestaltung überhaupt eingreifen?

Das Grundgesetz gilt auch im Privatbereich. So hat das Bundesverfassungsgericht schon 1959 das Letztentscheidungsrechts des Vaters bei der Kindeserziehung, den so genannten Stichentscheid, für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung betraf durchaus die Verhältnisse hinter der Wohnungstür.

Einerseits berufen Sie sich auf die Wahlfreiheit der Eltern, andererseits äußern Sie sich eher ablehnend, wenn Frauen der Kinder wegen zu Hause bleiben.

Das Grundgesetz spricht von der Gleichheit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, nicht aber von der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Geschlechterrollen. Solange es in aller Regel die Frauen sind, die zu Hause bleiben, ist die Wahlfreiheit für und in den Familien nicht wirklich gewährleistet.

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