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Das Wand-Dekolletee

Schwebende Zeichen: Im Münchner Haus der Kunst hat der polnische Künstler Piotr Nathan Arbeiten so arrangiert, dass sie mit den Grenzen der Darstellung zwischen realen und fiktiven Räumen spielen

von HEIKE ENDTER

Im Münchner Haus der Kunst hängt ein über sechs Meter langes goldfarbenes Collier mit rubinroten Steinen. Nein, nicht Steine, sondern Plexiglas. Wenn man die Treppe hoch geht, kommt man ziemlich nah am Verschluss vorbei. In Kopfhöhe baumeln die handgroßen Prunkstücke. Die Kette hängt da wie eine Boa. Dabei ist sie so mächtig, dass bei ihrem Anblick selbst eine Riesenschlange schüchtern werden könnte. Womit wir zur Bedeutung von Größe kommen: Weil die Kette riesig ist und schwer erscheint, erinnert man sich an eine Funktion des Gegenstandes Kette – etwas anzuketten. Daher wirkt das, was als Schmuck gedacht ist, auf einmal als Last und als Zeichen einer Gefangenschaft.

In einer Fassung ist kein rubinrotes Plexiglas, sondern ein Stück Stoff, darauf steht „Jude“ in Nazischrift. Man kann es natürlich als Kommentar zum Haus der Kunst nehmen, dass der aus Polen stammende und in Berlin lebende Künstler Piotr Nathan dieses Collier mit diesem Zettel aus seinem Sortiment von Riesenketten ausgewählt hat. Der Zettel erscheint wie die tragische Besitzurkunde für ein Schmuckstück. Und wieder bekommt man den Irrsinn der Größenverhältnisse zu spüren: Wenn man oben auf der Treppe steht und Abstand hat, erscheint die Kette vor allem als Schmuck. Sie schmückt das Dekolletee einer hübschen, nichts sagenden, weißen Wand. Und was soll man sagen – es steht ihr, sie hat das Format dazu.

Überhaupt macht die Ausstellung einen Eindruck von Großzügigkeit. In drei Räumen sind nur vier Werke ausgestellt. Im Treppenhaus hängt noch eine Serie von Farbfotos, auf denen vor allem verblühte Blumen zu sehen sind. Danach folgt ein schmaler Raum, in dem mehrere Spitzengardinen in Reihen hängen. Der Titel ist „Ein Sprung im Wasser“. Die Gardinen, könnte man beim Durchwandern ihrer Reihen denken, sind wie Unterwasserpflanzen, die sich bewegen, wenn man an ihnen vorbeikommt. Es gibt rote, blaue, türkise, zitronengelbe und lachsfarbene Exemplare. Wie man durch sie hindurch sieht und gesehen wird, erinnert daran, dass man es mit einer äußerst vieldeutigen Ansammlung kleiner Knoten zu tun hat, einem Stoff, dessen Name „Andeutung“ sein könnte, den es in modernen Wohnungen eher selten gibt. Und plötzlich fängt man womöglich an, ihn zu vermissen. Vielleicht nicht auf der Sessellehne, aber irgendwo schon. Der Stoff bietet Nähe und Distanz zugleich. Man kann über die Materie reflektieren, die zwischen einem selbst und etwas anderem ist, und über die Unvorstellbarkeit, dass es schwierig sein könnte, sie zu überwinden, denn man sieht ja hindurch.

Tatsächlich könnte es mit dem „Sprung im Wasser“ schwierig werden. Wenn man dann nach vorn in den nächsten größeren Raum springt, sieht man eine dunkle Gestalt an der Wand. Die Gestalt ist gefesselt, das erkennt man sofort. So wie sie verschnürt ist, müsste sie auf dem Bauch auf einem Boden liegen, aber hier liegt sie auf einer Wand, und – schwupp – wird die senkrechte Wand in Gedanken waagerecht, und man schaut von oben darauf. Also, wo ist der Standpunkt? Auf dem Steinboden im Haus der Kunst. Hopp, schon steht die Wand wieder, und die Gestalt auf der Wand schwebt, ein wenig unsicher zwar, denn auf einer Wand ist schlecht schweben.

Jetzt fällt auch ihre Gummimontur auf oder das, was von weitem wie Gummi wirkt, aber eigentlich aus vielen schwarz gezeichneten Kästchen besteht. Die kräftigen Schultern und der Anzug sehen aus wie bei Batman, dem allerdings die Gummiohren abhanden gekommen sind. Die Vorlage stammt, wie zu hören war, aus einem Magazin. Das Foto im Magazin hat Piotr Nathan abfotografiert, hochkopiert, bis die Pixel so groß waren wie Kieselsteine. Dann hat er das Bild auf die Wand projiziert, um schließlich einen Monat lang mit Kohlestiften weiterzupixeln. Die Fotovorlage ist aus einem Bondage-Magazin: Da geht es um Sex, und schon denkt man nach über Batman und seinen Gummifummel. Die gefesselte Gestalt ist keine als arme Seele bestimmte Gestalt, sondern schwebt in der Vieldeutbarkeit des Fesselns und Gefesseltseins.

Der Kohlestaub soll nach dem Ende der Ausstellung abgesaugt werden. Besonders die Wand und der Fußboden links neben der Figur werden viel Stoff zum Saugen bieten. Immerhin ist die Wand sehr großflächig mit Kohle bemalt. Das Muster erinnert an das Experiment im Physikunterricht, bei dem sich Eisenspäne nach einem Magneten ausrichten. Man könnte meinen, die Arbeit des Zeichnens beruhe auf einer magnetischen Anziehung.

Bis 8. 7., Haus der Kunst, München

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