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Arme Familien werden ärmer

Rot-Grün hat das Kindergeld erhöht. Damit wird nur an den Symptomen gedoktert. Nötig sind 800 bis 1.000 Mark pro Kind – unabhängig vom Einkommen der Eltern

Rot-Grün fördert die jobgerechte Kleinfamilie; die Mehrkinderfamilie giltals Auslaufmodell

„Pikachu als Computerspiel gegen Mewtu auf Video. Tausche die blaue gegen die gelbe Edition.“ – Wer den regen Tauschhandel mit Pokémon-Karten und Gameboy-Spielen auf bundesdeutschen Grundschulhöfen verfolgt, steht der behaupteten Kinderarmut in Deutschland skeptisch gegenüber: Nie waren Kinder und Jugendliche derart materiell abgesichert und als zahlungskräftige Konsumenten umworben. Nie hatten sie vergleichbare Freiheitsspielräume. Für manche allerdings eine leere Freiheit. Denn jedes siebte Kind wächst in (Einkommens-)Armut auf. Bei ihnen reicht es nur zu den billigen Pokémon-Stickern, die längst ohne Tauschwert sind – und am Ende des Monats zu Nudeln mit Ketchup. Der erste Schultag nach den Ferien ist für sozialhilfeabhängige und allgemein für die meisten Kinder mit mehreren Geschwistern oder von allein Erziehenden der schlimmste: Während Einzelkinder Gutverdienender vom Urlaub in Florida oder Ägypten erzählen, kennen sie – darunter viele „ausländische“ Kinder – das Ausland nur aus dem Fernsehen. Nicht der individuelle Mangel macht die Brisanz der Kinderarmut aus. Mörderischer für Kinderseelen ist, wenn man ständig die Erfahrung macht, nicht mithalten zu können. Höhere Krankheitsanfälligkeit, ein Leben in beengten Wohnungen in heruntergekommenen Stadtteilen und vor allem die schlechteren Bildungs- und Berufschancen tragen dazu bei, dass sich die „Kultur der Armut“ verfestigt.

Von Rot-Grün erhoffte man sich bislang vergeblich einen Anlauf gegen Kinderarmut. Zwar hat das Kabinett gestern beschlossen, im nächsten Jahr die steuerlichen Kinderfreibeträge und bei Normalverdienern das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 30 Mark anzuheben. Doch dies bekämpft die Armut von Kindern nicht. Vielmehr sorgt Rot-Grün dafür, dass künftig die Lebenswirklichkeiten armer und reicher Kinder noch mehr auseinander klaffen: Gut Verdienende profitieren. Bei ihrem Nachwuchs reichen die höheren Steuerfreibeträge auch für die goldene und die silberne Pokémon-Edition. Bei der Mehrheit von Normalverdienern stopft die Kindergelderhöhung allenfalls die durch die Ökosteuer und die Sozialversicherungspflicht auf 630-Mark-Jobs entstandenen Finanzlöcher. Von Verbesserungen völlig ausgespart bleiben hingegen jene dreißig Prozent der Kinder von allein Erziehenden und vierzig Prozent der Kinder mit zwei und mehr Geschwistern, die unter Armutsbedingungen leben: Für das dritte und weitere Kinder ist mehr Kindergeld überhaupt nicht vorgesehen. Bei sozialhilfeabhängigen Kindern wird die Kindergelderhöhung mit der Sozialhilfe verrechnet. Von den vorgesehenen Steuerfreibeträgen für eine Kinderbetreuung profitieren nur jene Eltern, die ihre Kinder erstens nicht selbst betreuen und zweitens über ein zu versteuerndes Einkommen verfügen. Und mit dem gleichzeitigen Abbau des Haushaltsfreibetrags für allein Erziehende spart man just bei jenen, die am stärksten Armutsrisiken ausgesetzt sind.

Man mag einwenden, dass die „Klassengesellschaft“ auf bundesdeutschen Schulhöfen eine Folge der sozialen Verwerfungen sie, die die Gesellschaft insgesamt prägen. Und weniger Resultat politischer Versäumnisse. Doch Sozialpolitik ist nicht unschuldig daran, dass Armut in Deutschland sich zunehmend als die Armut von Kindern und Jugendlichen gestaltet.

Zum einen: Zwar wertet die Bundesregierung allein Erziehende und Patchwork-Familien rhetorisch auf; „Wahlbiografien an Stelle standardisierter Lebensläufe nicht nur propagieren, sondern ermöglichen“, nennt Schröder das. Doch dies bemäntelt nur die Tatsache, dass die angebliche Freiheit des jederzeit möglichen Gehen-Könnens im unteren Drittel der Gesellschaft keine ökonomische Basis hat: Bei einer Trennung der Eltern ist der Abstieg in die Armut vorprogrammiert, die Mehrkinderfamilie dann der sicherste Weg in den Ruin. Allein erzogene Kinder haben ein viermal so hohes Armutsrisiko wie Kinder in Ehen.

Zum anderen: Die Armut Heranwachsender ist eng mit der moralisch diskreditierten und sozialstrukturell überkommenen Geschlechterordnung der Ein-Ernährer-Familie verknüpft. Angesichts des hohen Arbeitslosigkeitsrisikos und eines boomenden Niedriglohnsektors können immer weniger Männer der Norm der Alleinernährers genügen. Frauen müssen erwerbstätig sein – und die übergroße Mehrheit will dies auch. Doch sind mehrere Kinder da, ist eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit beider Eltern kaum möglich. Deshalb bildet die Zahl der Geschwister einen der wichtigsten Einflussfaktoren für das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen. Zumal Rot-Grün die Mehrkinderfamilie als ein Auslaufmodell behandelt. Egal ob Kindergeld, Betreuungsfreibeträge oder Rentenreform: Belohnt wird, wer sich bei Erwerbstätigkeit beider Eltern für maximal zwei Kinder entscheidet, die vorwiegend außerhäuslich betreut werden. Wer von diesem Schema abweicht, wird abgestraft. So sieht etwa Riesters Rentenreform einen erstaunlichen Modus vor, wie die Betreuung von Nachwuchs angerechnet wird: Ist die Frau berufstätig, werden nur zwei Kinder berücksichtigt – auch wenn sie mehr hat. Ist die Frau nicht berufstätig, muss sie mindestens drei Kinder haben, damit sie in den Genuss einer Anrechnung kommt.

Von den Steuerfreibeträgen profitiert nur, wer seine Kinder nicht selbst betreut und ein Einkommen hat

Eine Familien- und Sozialpolitik bleibt fragwürdig, wenn sie sich nur für die jobgerechte Kleinfamilie einsetzt, statt die Rechte der Hauptleidtragenden der bestehenden Geschlechter(un)ordnung zu stärken: Noch immer sind Kinder und Jugendliche keine Sozialstaatsbürger mit eigenen Rechtsansprüchen. Als einziger Personengruppe verweigert ihnen Rot-Grün weiterhin den verfassungsgerichtlich zuerkannten Anspruch auf ein Mindestlebensniveau unabhängig von der (Erwerbs-)Situation der Eltern. Immerhin fordern die Bündnisgrünen eine Grundsicherung für verarmte Kinder und Jugendliche, die unzureichende Sozialhilfeleistungen ergänzt. Doch auch dies ist nur ein Herumdoktern an Symptomen: Geholfen wird erst, wenn Familien wegen ihrer Kinder finanziell am Abgrund stehen. Gefordert wären Lösungen, die dem Armutsrisiko entgegentreten.

Also noch mehr Geld für Familien ausgeben? Kindergeld, Erziehungsgeld, Mutterschaftsgeld, Ehegattensplitting, Ausbildungs- und Haushaltsfreibeträge, Teilfinanzierung von Kindergärten und Horten – tut der Staat nicht längst genug? In der Tat ließe sich aus diesem Förderdickicht eine einfache und klare Finanzhilfe schnüren: Monatlich 800 bis 1.000 Mark für jedes Kind – unabhängig von der Erwerbssituation und der Lebensform der Eltern. Bei einer Berufstätigkeit können sie sich Betreuungsleistungen in Kindergärten oder Horten einkaufen. Wollen sie sich zeitweilig selbst um ihre Kinder kümmern, können sie den Betrag als persönliches Erziehungsgehalt verwenden. Und kein Sozialdemokrat müsste mehr mit verkniffenem Gesicht die „Sachzwänge“ einer Familienförderung verteidigen, die die Armen ärmer und die Reichen reicher macht. HARRY KUNZ

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