: „A Nice Result“
Irlands Nein zum Nizzavertrag macht den EU-Gipfel in Göteborg zum Krisentreffen. In Gefahr ist jedoch nicht die Osterweiterung, sondern die demokratische Zukunft Europas
Schon bevor Irland am 7. Juni über den Vertrag von Nizza abstimmte, war das Programm der EU-Ratskonferenz von Göteborg prall gefüllt mit Problemen: die akuten Konflikte in Nahost und auf dem Balkan, der Besuch des neuen amerikanischen Präsidenten Bush, der schwelende Streit über die gemeinsame Agrarpolitik und die Regionalförderung. Am 7. Juni jedoch bescherten überraschend 54 Prozent der Iren den 15 Staats- und Regierungschefs eine neue Krise.
Deren Tragweite wollen die Politiker gegenüber den Bürgern Europas gern kleinreden. Nur: Das Nein Irlands zum Nizzavertrag ist keine Lappalie. Da ein Mitgliedstaat das Abkommen nicht ratifiziert hat, ist das gesamte EU-Vertragswerk völkerrechtlich hinfällig geworden. Die Regierungskonferenz von Nizza müsste nun eigentlich wieder von vorne beginnen. „A Nice Result“, nennt dies ein dänischer EU-Gegner im Europaparlament (wohl wissend, dass in Englisch Nice eben „schön“ und „Nizza“ meinen kann). Und vielleicht hat er ja Recht. Was spricht denn dagegen, den Vertrag von Nizza für erledigt zu erklären?
Kaum etwas. Ohne Nizza würde die EU-Osterweiterung zwar schwieriger werden, aber nicht wirklich in Gefahr geraten. Mit Nizza hingegen würde sich das Demokratiedefizit der EU gleich in zweifacher Hinsicht weiter vergrößern: zum einen im Verhältnis der Völker Europas zu ihren Regierungen und zum anderen zwischen den großen und kleinen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Wahrscheinlich werden die 15 EU-Regierungen in Göteborg alles unternehmen, um den viel beschworenen Nizza-Prozess am Leben zu erhalten. Ihr Hauptargument wird die historische Herausforderung der EU-Erweiterung sein. Dieses Argument ist indes nicht stichhaltig, denn der Nizza-Vertrag ist weit mehr und zugleich viel weniger als ein Erweiterungsvereinbarung.
Nizza ist mehr als ein Erweiterungsvertrag, weil er eine Reihe von Bestimmungen enthält, die die Erweiterung nicht direkt betreffen. So etwa die Grundrechtecharta, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat oder die Einführung der „verstärkten Zusammenarbeit“. Wer die irische Abstimmungsdebatte verfolgt hat, der weiß, dass die Nizza-Gegner nicht gegen die Osterweiterung gekämpft haben, sondern vor allem gegen die Weigerung der Dubliner Regierung und des gesamten politischen Establishments, diese anderen Vertragsinhalte überhaupt öffentlich zu diskutieren.
Andererseits ist Nizza weit weniger als ein Erweiterungsvertrag, weil er die laufenden Beitrittsverhandlungen weitgehend unberührt lässt. Diese können nun trotz der Ablehnung Irlands wie geplant fortgesetzt und in einigen Fällen bis zum Jahr 2003 abgeschlossen werden. Außerdem steht die notwendige Reform der EU-Agrar- und Regionalförderung noch aus, weil sie in Nizza gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden war.
Tatsächlich ist Nizza nur insofern ein Erweiterungsvertrag, als er unter anderem eine Neuverteilung von Sitz und Stimme in Kommission, Rat und Parlament vorsieht, wenn diese künftig aus bis zu 27 Mitgliedstaaten bestehen. Soweit es um diese in Nizza hart umkämpfte Formel für den Neuzuschnitt der Unionsorgane geht, könnte die Europäische Union sie entweder aus dem Vertrag herauslösen und als separaten Rechtsakt neu beschließen – oder sie könnte die Formel zu einem besonderen Bestandteil der Beitrittsverträge mit den Kandidatenstaaten machen.
Die Osterweiterung würde also, wenn die 15 Regierungen es wirklich wollen, durch den Wegfall des Nizzavertrages kaum Schaden erleiden. Weit größer wäre allerdings der Schaden für die Demokratie in Europa, sollte die EU weiter am Nizzavertrag festhalten. Wohl gemerkt: Die Iren waren die einzigen, die von ihrer Regierung direkt zum Nizzavertrag befragt wurden, und sie haben nein gesagt. Zuletzt waren es die Dänen, die als einzige über den Euro entscheiden durften, und heraus kam ebenfalls ein klares Nein. In Schweden und Großbritannien taktieren die Regierungen seit Jahren mit Euro-Referenden, weil sie sich angesichts stabiler Euroskepsis in der Bevölkerung nicht trauen, die im Prinzip versprochenen Abstimmungen über die Währungsunion anzusetzen. Im Regelfall aber durften die EU-Bürger weder beim Euro noch bei Nizza mitentscheiden – und zwar trotz oder, wie in Deutschland, gerade wegen des Risikos fehlender Zustimmung.
Darüber hinaus beweist die EU im Umgang mit dem irischen Anti-Nizza-Votum eine zunehmend eklatante Diskrimierung kleiner Mitgliedstaaten. Um Nizza zu retten, sucht die EU wie selbstverständlich nach einer „dänischen Lösung“. Dänemark hatte beim Maastrichtprozess einen Präzedenzfall geschaffen, als es den Vertrag in einem ersten Referendum 1992 ablehnte, diesen aber, ergänzt um ein Zusatzvereinbarung, in einer zweiten Abstimmung 1993 verabschiedete. Dänemark wurden verschiedene Ausnahmen von den Verpflichtungen des Maastrichtvertrages gewährt, etwa in Bezug auf die Verteidigungspolitik, weshalb Dänemark heute nicht an den EU-Kriseninterventionsstreitkräften teilnimmt. Eine vergleichbare Ausnahmeregelung könnte theoretisch auch für das neutrale Irland gefunden werden.
Eine solch „kosmetische Lösung“ (wie sie im Berliner Außenministerium genannt wird) hat allerdings einen demokratischen Schönheitsfehler. Würde die Ratifikation des Nizzavertrages in der französischen Nationalversammlung oder dem deutschen Bundestag scheitern, würde sicherlich der gesamte Nizza-Prozess sofort für beendet erklärt werden. So aber missachtet die EU den Volksentscheid Irlands, so wie sie 1992 im Grunde auch das demokratische Votum der Dänen ignorierte. Damals wie heute scheint vor allem die Größe und damit das machtpolitische Gewicht des jeweils betroffenen Mitgliedstaats darüber zu entscheiden, ob ein europäisches Integrationsprojekt fortgesetzt werden kann oder nicht. Es ist die gleiche Form der Ungleichbehandlung, die zuletzt auch das kleine Österreich im Unterschied zum großen Italien erfahren musste. Österreich wurde für die Regierungsbeteiligung der rechtsextremen FPÖ boykottiert, Italien widerfährt dieses Schicksal nicht, trotz Mitwirkung der Postfaschisten an der Regierung Berlusconi.
Nizza ist ein Flop, meinte kürzlich selbst der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors. Die Mehrheit des irischen Volkes meint das auch, und darum kommt man nun nicht herum. Nur: Die EU scheint die Einhaltung demokratischer Spielregeln nicht zu kümmern, zumal wenn sie von einer „kleinen“ Demokratie eingefordert werden. Es verfestigt sich daher der fatale Eindruck, dass der Integrationsprozess von den politischen und wirtschaftlichen Eliten, aber nicht von den Bürgern Europas getragen wird. Nizza kann sterben, ohne die Osterweiterung zu blockieren. Nizza muss sogar sterben, weil die Demokratie nicht der Preis für eine immer größere und engere Europäische Union sein darf.
CARSTEN SCHYMIK
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