In der Spaßfalle

Christopher-Street-Paraden wie in Köln oder Berlin zählen nicht nur in der Spaßgesellschaft zu den wichtigsten Events des Jahres. Schwule und Lesben feiern sich und werden gefeiert. Sie sind nicht mehr ganz igittigitt. Fast sogar ein bisschen gesellschaftsfähig geworden. Ist das für Homos schon das Ende ihrer Utopien?

von JAN FEDDERSEN

Anfang April wurde der bayerische Politiker Aribert Wolf das Opfer einer Fehleinschätzung. Aus Ärger über die selbstbewusste Präsenz des Rosa-Liste-Abgeordneten im Münchner Rathaus ließ der CSU-Mann vor Parteifreunden seinen Ressentiments freien Lauf. Es sei unerträglich, dass ein homosexueller Politiker mächtiger sei „als hunderttausende von anständigen Bürgern und CSU-Wählern“.

Sein Parteifreund, Alexander Pöttinger, kritisierte ihn für diese Äußerung öffentlich. Wolf hingegen empfand dies als parteischädigend und beantragte den Parteiausschluss seines Kritikers. Warum auch nicht? Der Mann, der sich mit diesem Satz für die Kandidatur zum Münchner Oberbürgermeister und damit als Nachfolger des amtierenden Christian Ude von der SPD empfehlen wollte, wird gewiss das vor gut zwanzig Jahren dekretierte Bekenntnis Franz Josef Strauß’ erinnert haben: Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder!

Allein: Dem Manne wurde vom eigenen Parteimilieu widersprochen, deutlich gar. Alexander Pöttinger wurde nicht aus der Partei hinausgeworfen, vielmehr erntete Aribert Wolf weitere und für ihn folgenreiche Kritik. Formulierungen seiner Art trügen nicht dazu bei, hieß es, die CSU als weltoffene Partei zu profilieren. Ebendies aber sei wichtig, um den Rot-Grünen im Rathaus die Mehrheit abzunehmen. Kurzum: Wolf hat die Affäre beschädigt, mit seinen Oberbürgermeisterambitionen steht es nun zum Schlechtesten.

Zu dieser Anekdote über die unfassbar veränderte moralische Landschaft der Bundesrepublik der Jetztzeit passt der Auftritt des designierten Berliner Regierungschefs Klaus Wowereit vom vorigen Wochenende. Sein auf dem SPD-Parteitag geäußerter Satz „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“ brachte ihm nicht nur viel Applaus, sondern auch, rein demoskopisch betrachtet, Zustimmungswerte bei der Wählerschaft, die für die Berliner SPD in den vergangenen Jahren im Bereich des Utopischen lagen.

Mit homophoben Äußerungen ist offenbar kein Blumentopf mehr zu ernten, jedenfalls nicht in der Neuen Mitte, diesem gesellschaftlichen Spektrum, das sich auf Liberalität und Weltoffenheit viel zugute hält. Andererseits hat ein Sprecher der „Tagesschau“ vor zweieinhalb Jahren ein Urteil gegen den Berliner Quer-Verlag erwirkt, der in einem von ihm herausgegebenen Lexikon schwuler und lesbischer Personen jenem Mann einen Eintrag gewidmet hat. Stünde er dort weiterhin, gälte er als schwul – und das sei rufschädigend, so der Nachrichtenvorleser.

Und in Thüringen musste vor kurzem eine Ausgabe des homosexuellen Buschfunk auf richterlichen Beschluss hin eingezogen werden. In dem Magazin wurde in einem satirisch inspirierten Beitrag behauptet, Ministerpräsident Bernhard Vogel sei „einer von uns“. Der unverheiratete Politiker, seit seinen Regierungstagen in Rheinland-Pfalz Mitte der Achtzigerjahre Objekt homosexueller Projektionen, fühlte sich diffamiert.

Seltsame Verhältnisse, 32 Jahre nach Entnazifizierung des Paragraphen 175. Einerseits kann niemand mehr Karriere machen, sagt er etwas gegen Schwule und Lesben an und für sich; andererseits gilt als gerichtlich zu ahndende Beleidigung, öffentlich als homosexuell bezeichnet zu werden.

Ist das die Ernte jener Saat, die Ende der Siebzigerjahre auf einem Kongress namens „Homolulu“ in Frankfurt am Main an Utopien gesät wurde? Damals trafen sich hunderte von schwulen Männern, um darüber nachzudenken, wie man „wärmer lebt“, wie man die „Kälte der Zwangsheterosexualität“ überwindet. Liest man einige der Papiere, die aus diesem Treffen hervorgingen, fällt der linke, das heißt kategorische, zweifelsfreie Sprachduktus auf. Und die Verve, mit der ein anderes Leben fantasiert wurde, schließlich die wundervolle Anmaßung, alle Verhältnisse auf den Kopf stellen zu wollen, die sich einem in den Weg stellen.

Damals, es ist kaum eine Generation her, gab es nichts von dem, was heute politisch (und gesellschaftlich) Schwulen und Lesben möglich ist. Keine Homos in Daily Soaps, keine schwulen Chöre, keine homosexuellen Gruppen in Parteien und Gewerkschaften. Keine Christopher-Street-Paraden. Nur Demos mit eher spärlichem Besuch, die sich obendrein vom Straßenrand noch als Exoten begaffen lassen mussten.

Es gehörte in jener Zeit zur Eigenart nichtbewegter Homos, die Beschämung über die eigene sexuelle Orientierung für ein Naturgesetz zu halten. Solidarität anderen Schwulen, anderen Lesben gegenüber? Fehlanzeige. Man hatte Angst und hatte sich zugleich in ihr gut eingerichtet. Die meisten schwulen Kneipen ließen nur eintreten, wer zuvor an der Tür geklingelt hatte. Es war tatsächlich eine kalte, resonanzlose Zeit. Schon ein eher trübsinniger Fernsehfilm wie Wolfgang Petersens „Die Konsequenz“ aus dem Jahre 1977 galt als so aufrührerisch, dass sich der Bayerische Rundfunk aus der ARD ausblendete.

Ja, diejenigen, die die Schwulenbewegung verkörperten, konnten andere Homosexuelle kaum anders denn als angepasst und verklemmt wahrnehmen. Stattdessen wurde begonnen, eine eigene, alternative Homoinfrastruktur aufzubauen. Buchläden, Cafés, Beratungsstellen, angesiedelt in Großstädten wie Westberlin, Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und München.

Schwule galten – aus der Sicht von Heterosexuellen, sofern sie sie nicht gleich für des Teufels hielten – als sensible, den schönen Künsten zugeneigte Menschen. (Mit diesem öden Image hadern die Betroffenen bis heute.) Homosexuelle, so der liberale, der wohlmeinende Teil der Öffentlichkeit, selbst angetörnt noch von den sexuellen Experimenten der Achtundsechzigerära, waren Wesen, die man besser nicht härter anfasst. Sondern schützt. Jedenfalls nicht diskriminiert.

Immerhin, möchte man heute sagen. Homosexuelles fand Eingang in die Programmatik der Grünen. Ja, privat begannen Schwule und Lesben allmählich den Bonus ihrer Exotik zu genießen. Als Opfer genossen sie Anerkennung. Das änderte sich auch nicht Anfang der Achtzigerjahre, als aus den USA die Nachricht von einer Infektionskrankheit kam, die vornehmlich Homosexuelle traf. Aids aber bot der sich selbst aufklärenden Bundesrepublik die Chance zu zeigen, dass man nichts mit den Traditionen der Homohatz, die bis weit in die Sechzigerjahre reichten, zu schaffen haben will. Rita Süssmuth durfte in puncto Aids den Takt vorgeben, nicht Ordokonservative wie Peter Gauweiler.

Doch ohne eine neue Generation von Homobewegten hätte die größte Selbsthilfebewegung der Bundesrepublik nicht schaffen können, eine tödliche Infektionskrankheit ohne polizeistaatliche Maßnahmen zu bekämpfen. Plötzlich ging es nicht mehr um „Wärmer leben“-Konzepte, also um das ganz Andere, sondern um Hilfe und Organisation eines zu verhindernden Desasters. Der Preis war, dass über Sex geredet werden musste, über Lust und Leidenschaft. Vor allem über schwulen Sex. Plötzlich war zur besten Sendezeit im Fernsehen die Rede von Orgasmus, Analverkehr und Abspritzen. Und, große Überraschung, das Land fiel nicht in Ohnmacht.

Insgeheim freilich war mit diesem Diskurs auch das Bild vom Homosexuellen als chronischen Sensibelchen deutlich in den Hintergrund getreten. Dafür gewann ein anderes Bild an Kontur. Der Schwule als freischärlerisches Sexwesen. Die Heteros registrierten in sich einen gewissen Neid auf all diese, vom Stern über den Spiegel, die Zeit bis zur Münchner Abendzeitung gerne und manchmal lüstern kolportierten Stories über Männer, die doch bitte, bei aller Liebe zum häufigen Partnerwechsel, nie ein Kondom vergessen mögen. Aus dem feinfühligen war nun ein spaßorientierter Homosexueller geworden, der Sex zu sich nimmt, wie durstige Menschen Wasser trinken.

Zugleich blühte nicht nur in Metropolen wie Berlin das, was Kritiker mit der Neigung zum Denunziatorischen oft Ghetto nennen: eine homosexuelle Infrastruktur mit Kneipen und Cafés für jeden Geschmack. Homosexuelles hatte (und hat) für die Betroffenen nicht mehr so krass wie ehedem den Hautgout des Nicht-so-Wertvollen. In gewisser Weise begann man sogar damit anzugeben, wie trendig und hipp man sei – nicht so spießig und bürgerlich wie die Heteros.

Das war eine Form der modischen Selbsttäuschung. Als ob gemischtgeschlechtlich orientierte Menschen nicht ebenso verschieden sind wie gleichgeschlechtliche – mit Liebeskummer, Verliebtheiten, sexuellen Obsessionen und erotischen Phantasmen.

Anfang der Neunzigerjahre begann das, was der dänische Soziologe Henning Bech als die „Homosexualisierung des Heterosexuellen“ erkannte. Das schwule Lebensmodell – Partnerschaft auf Zeit, biografische Eigenständigkeit, sexuelle Feindifferenzierung, Leidenschaft nur im Rahmen von Verhandlungsmoralen – begann auch für Männer und Frauen attraktiv zu werden, die im Bett (oder wo auch immer) einen Partner, eine Partnerin des anderen Geschlechts bevorzugen.

Zur gleichen Zeit begann eine neue Generation von (in den Sechzigerjahren geborenen) Homosexuellen in allen Parteien (öffentlich kenntlich in erster Linie bei den Grünen), mit dem Lobbyismus in Sachen politischer Gleichberechtigung Ernst zu machen. Ihnen reichte es nicht, wahlweise für verfolgt, sensibel oder extraspaßig gehalten zu werden. Was fehlte, setzten sie (und vor allem die Grünen um den Bundestagsabgeordneten Volker Beck) auf die Agenda: ein Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Paare, dem demnächst ein Antidiskriminierungsgesetz folgen soll. Das erstere Projekt wurde im vorigen Dezember vollendet, der Bundestag setzte gegen die (nur streckenweise fundamentale) Opposition aus Union, FDP und PDS das Institut der Eingetragenen Lebenspartnerschaften durch.

Wie auch immer Karlsruhe auf die Verfassungsbeschwerde Bayerns reagieren wird: Die politisch-juristische Gleichberechtigung Homosexueller wird nicht aufzuhalten sein. In der Falle der Spaßgesellschaft sitzen Homosexuelle trotzdem seither. Manche Unionsmenschen argumentierten gerade mit Hinweis auf die Partyfähigkeit der Schwulen und Lesben (die eigentlichen Erfinder aller Love Parades), dass sie doch eigentlich so etwas Bürgerliches wie Ehe nicht im Kopf haben könnten. So lieben Konservative uns, tückisch und von oben herab: Wir mögen euch, ihr schmückt einfach jedes Fest!

Was viele nicht begreifen, ist dieses schlichte Credo: Alles was Heterosexuelle an Rechten genießen, wollen Homosexuelle auch. Auf Rechte verzichten kann man nur, wenn sie man hat. Das wissen Heteros am allerbesten.

Und was bleibt, gut zwei Dekaden nach „Homolulu“? Das Wissen, dass es sich zu kämpfen lohnt. Und ein Abschied von der Idee des ganz und gar anderen Lebens. Ein gewisser Schmerz, dass die ja auch spannenden Zeiten vorbei sind, als man sich von Feinden und Ignoranten umzingelt glaubte. Von gewöhnlichen Homos, die sich verstecken, und von Heteros, die einen ständig bemitleiden wollen. Das schöne Gefühl der Eingeweihtheit, der Avantgarde, um dieses linke Identitätsfossil zu nennen, hat keine Grundlage mehr. Schwule und Lesben sind als Gruppe ebenso in sich differenziert wie Heteros auch. Es gibt Liberale und Konservative. Sie sind langweilig oder aufregend. Sexy oder gräulich.

Alles im grünen Bereich also? Nicht ganz. Bei Christopher-Street-Umzügen sind Menschen zu sehen, denen es offenkundig gut geht. Was nicht zu sehen ist, sind die schwulen Männer und lesbischen Frauen, die die Liberalisierung überall und immer für eine Selbstverständlichkeit halten. Und das rächt sich gelegentlich. An der Ostsee, berichtete der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, seien vor kurzem zwei Männer von Dorfjugendlichen gefoltert worden. Sie waren in einer Disco zusammen tanzen gegangen, darauf vertrauend, dass zwei offene Schwule keine Provokation mehr sind. Ein Irrtum, ein tragischer. Die Toleranz, ziviler Gleichmut dem Fremden gegenüber, ist nach wie vor eher fragiler Art.

Schwule Überfalltelefone bestätigen diesen Trend der zunehmenden Gewaltbereitschaft gegen Homosexuelle. „Schwuchtel“ zählt zu den beliebtesten Schmähworten unter männlichen Jugendlichen. Vielleicht ziehen Schwule und Lesben den Hass auf fremde Lust auf sich. Und Argwohn, weil die früheren Opfer inzwischen ein gutes Image haben. Sicher ist nur, dass bei aller Partylaune eben diese Aggressionen kein Thema sind.

Was bleibt also? Nur dies: Der Kampf geht weiter.

JAN FEDDERSEN, 43, ist taz.mag-Redakteur