Highnoon mit Gregor Gysi

Wie der PDS-Star eine Regierungserklärung für Berlin abgibt und verschweigt, dass es mit ihm und seiner Kandidatur auch hätte anders kommen können

aus Berlin JENS KÖNIG

Natürlich. 12 Uhr mittags. Highnoon. Gregor Gysi weiß, dass er mit seinen 1,65 Meter nicht zum Gary Cooper taugt, und sein dunkelblauer Anzug mit dem weißen Hemd passt schlecht zum Duell in der staubigen Westernstadt. Aber wie Gysi im Penthouse eines Berliner Konferenzzentrums langsam zum Mikrofon schreitet, wie er Punkt zwölf Uhr eine Erklärung aus der Tasche seines Jacketts zückt, wie er die vielen Fernsehkameras auf sich zieht, hinter sich eine riesige Fensterfront, durch die das Rote Rathaus zu sehen ist, der Sitz des Regierenden Bürgermeisters, das Objekt der Begierde – diese perfekte Inszenierung hat schon ein bisschen was von Hollywood.

Meine Damen und Herren, lautet die Botschaft, hier kommt der neue Regierungschef von Berlin.

Kommt er hier, der neue Regierende Bürgermeister von Berlin? In den letzten Tagen war wild darüber spekuliert worden. Der PDS-Star schien die Stadt förmlich zu elektrisieren. Einige Zeitungen wussten schon Anfang der Woche, dass Gysi es angeblich machen wird. Andere, darunter die taz, wussten, dass er es nicht machen wird. Genau gewusst hat es offenbar nicht mal er selbst.

Jetzt steht Gysi hier in diesem Penthouse über den Dächern von Berlin und verliest eine vorbereitete Erklärung. Nach ein paar Minuten fällt der entscheidende Satz: „Ich will Regierender Bürgermeister der Hauptstadt werden.“ Gysi macht an der Stelle nicht etwa eine Kunstpause. Er schaut auch nicht von seinem Manuskript auf. Fast harmlos kommt der Satz daher, so als melde Gysi seinen Anspruch auf das höchste Amt in der Hauptstadt ganz selbstverständlich an. Ihm gelingt es sogar, aus dem entscheidenden Satz durch einen Einschub ein kleines Kunststück zu machen: „Ich will Regierender Bürgermeister der Hauptstadt mit folgenden Zielen werden“, sagt er. „Mit folgenden Zielen“ – durch diese drei Worte unterstreicht Gysi, dass es ihm nicht um die Macht, sondern um Berlin geht.

Was dann folgt, ist keine einfache Erklärung des Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi mehr. Es ist die Regierungserklärung eines Mannes, dem es ernst scheint mit seinem Kampf um dieses hohe Amt. Der Visionen für die Stadt hat. Eine wirkliche Hauptstadt soll Berlin werden. Eine europäische Metropole. Eine Stadt der Wissenschaft und Kultur wie in den 20er-Jahren. Ganz staatstragend zählt Gysi Punkt für Punkt auf.

West- und Ostberliner will er so zusammenführen, dass Berlin ihr Gemeinschaftsprojekt wird. Gysi möchte, dass die Stadt und ihre Parteien, besonders die PDS, ihre Geschichte kritisch aufarbeiten, aber er sagt auch, dass der Kalte Krieg für immer vorbei sein muss. Die Stadt soll sozial gerecht saniert werden, findet er, die Bildungschancen müssen ausgebaut und die vielfältigen Formen von Kunst und Kultur erhalten werden. Alles andere, so Gysi, muss auf den Prüfstand. Und die Mauern in Berlin müssen endlich alle fallen: die zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, zwischen Ost- und Westberlinern, zwischen Regierung und Bevölkerung, zwischen oben und unten. „Ich stehe für Brücken, nicht für Mauern“, sagt Gysi dann. Das ist seine Botschaft für Berlin.

Ein Hauch von Geschichte weht durch den Raum. Ein ehemaliges Mitglied der SED soll die deutsche Hauptstadt regieren? Dietmar Bartsch, Petra Pau, Harald Wolf – etliche führende Genossen sitzen im Publikum, so als richte hier ein überparteilicher Bürgermeisterkandidat die Worte auch an sie. So als gehöre Gysi schon gar nicht mehr richtig zu ihnen, zur PDS.

Dieser Eindruck ist den Genossen herzlich egal. Die Parteistrategen wissen, dass Gysi für die PDS ein Geschenk Gottes ist. Er wird die Partei in der Hauptstadt vielleicht über die 20-Prozent-Marke führen. Er wird der PDS einen idealen Auftakt für die Bundestagswahlen 2002 bereiten. Und er wird die Schwächen der Partei verdecken.

Deswegen haben sie auch tagelang auf Gysi eingeredet, ihn gebeten, an ihm gezerrt, an seine Verantwortung für die Partei appelliert. Aber wie er sich letztlich entscheiden würde, haben auch sie bis kurz vor Schluss nicht gewusst. Mal hatte Gysi zugesagt, dann wieder abgesagt. Als er Freitagmittag in seinem Berliner Büro die Schlagzeilen der Zeitungen las („PDS will sich nicht für die Mauer-Toten entschuldigen“), war er wieder kurz davor, alles hinzuschmeißen. Er war ständig hin- und hergerissen, bis Samstagabend noch.

Gysi hatte so lange mit der Idee des Regierenden Bürgermeisters kokettiert, bis sie ihm über den Kopf gewachsen war. Auf seine engsten Mitarbeiter machte Gysi in den letzten Tagen den Eindruck eines Mannes, der sich selbst gefesselt hatte, aber nicht mehr wusste, wie er sich befreien sollte. Gysi merkte zunehmend, gar nicht mehr nein sagen zu können – zu hoch hatte er die Hoffnungen seiner Partei und vieler Wähler geschraubt. Als Gysi dann plötzlich anfing, von seiner Frau zu reden, dass auch sie auf der Straße ständig bedrängt werde, ihr Mann solle doch antreten, da wussten die Genossen, dass ihr großer Zampano eingesehen hatte, wie er sich entscheiden muss.

Auf seinen Gemütszustand wird Gysi auch heute, am Tag seiner Entscheidung, angesprochen. „Ich weiß gar nicht, ob ich hier private Dinge ausplaudern soll“, kokettiert er einen Augenblick, um dann zu erzählen, dass eine wichtige Rolle bei seiner Entscheidung sein Sohn gespielt habe. Der habe seinem Vater gesagt, er müsse jetzt ganz auf die Politik verzichten, für immer. Wenn er das aber nicht wolle, dann könne er niemandem erklären, warum er die historische Chance in Berlin verstreichen lasse. Der Vater, der seinen Sohn nach der Scheidung von seiner ersten Frau allein großgezogen hat, hörte auf ihn. „Aber die Entscheidung“, so Gysi, „habe ich dann schon selbst gefällt.“

Wer dem Helden des Tages in diesem Moment in die Augen sah, entdeckte in seinem Blick etwas Wehmütiges. Gysi hätte sich wohl gut vorstellen können, auf das Ganze hier zu verzichten und für immer aus der Politik auszusteigen. Aber das gehörte schon nicht mehr zur perfekten Show.